Jahresliteraturbericht 1

         (Erscheinungsjahr 2011)


Militärische und internationale Aspekte der DDR-Luftwaffen-Geschichtsschreibung

im Zeitraum 2009/10


     Walter Hundt


Flugobjekte, speziell Flugzeuge, gar bewaffnete Militärmaschinen, ja ganze Luftstreitkräfte von Staaten waren und sind seit dem Aufkommen des Flugwesens, erst recht in Zeiten von land- läufigen Kriegen, zumal verschärft in Zeiten, die gekennzeichnet sind durch Situationen im Stile von „Kaltem Krieg“, stets und von Anfang an Faktor zwischenstaatlicher Beziehungen und Subjekte internationalen Rechts. Dies trifft in ganz anderem Sinne erst  recht auf den zivilen Luftverkehr zu. Der vom Rezensenten untersuchte Zeitraum zeichnet sich durch die Spezifik aus, daß gerade zwei als absolute Standardwerke der Geschichtsschreibung zur Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) zu bezeichnende Publikationen erschienen sind: die „Chronik der NVA . . .“ von Klaus Froh 1)    und von einem sachkundigen Autorenkollektiv herausgegeben der 3. Band von „Was war die NVA . . .“2). Sie gehen ausführlich auf  alle, auch bisher vielfach nicht behandelte Problemkreise ein, die eine wahre Fundgrube darstellen. Aus dem letzteren Titel sei vor allem auf Beiträge von Hoffmann, Brühl,  Kunze, Hein und Klein verwiesen, die sich mit NVA im Kalten Krieg, dem Ringen um eine Miltärreform und der Bilanz nach 20 Jahren befassen. Besonders interessant der Beitrag von Hanisch über die Situation 1989/90 und konkrete Schritte des „Zusammenführens“ der deutschen Streitkräfte, (wobei auch auf viele in der Literatur verfälscht dargestellte Probleme eingegangen wird) sowie eine exakt recherchierte einschlägige Auswahlbibliographie auf 85 Seiten.



Luftstreitkräfte und internationale Politik

Während in diesen beiden Bänden natürlich auch ausführlich auf die Teilstreitkraft Luftstreit- kräfte/Luftverteidigung (LSK/LV) eingegangen wird, fällt dem Interessenten auf, daß gerade zu letzteren im Untersuchungszeitraum erstaunlich viele hochinteressante Titel erschienen. Nicht zuletzt daraus ergibt sich sicher, daß es im Zusammenhang damit eine überdurchschnittlich aktive breite Debatte gab und noch gibt. Sowohl ostdeutsche als auch westdeutsche Praktiker und Theoretiker kommen dabei zu Wort, wobei sowohl Militärhistoriker als auch nicht minder Forscher und Nutzer des Fachgebiets Internationale Beziehungen ihr Interesse bekunden. Die diskutierten Fragen resultieren zumeist aus den militärischen und politischen Auswirkungen auf die LSK/LV, die sich aus den Umwälzungen in den sozialistischen Ländern, ihrem Paktsystem und ihren Streitkräften (und damit naturgemäß auch vorrangig ihren LSK), aber auch auf deren Auswirkungen auf das westliche Paktsystem ergeben. Dabei geht es auch um Auswirkungen der einseitigen Abrüstungsmaßnahmen bei den DDR-Luftstreitkräften, die offensichtlich militär-politisch und militärtechnisch unzureichend vorbereitet  von der Parteiführung angewiesen wurden und das Kräfteparallelogramm und die denkbaren Belastungen der Einheiten, Truppenteile und Verbände durcheinanderbrachten. Hierher gehören auch Auswirkungen  der sowjetischen LSK/LV-Reduzierungen in der DDR und Veränderungen der Verteidigungsdoktrin, was Konsequenzen bei der Reorganisation des Luftverteidigungssystems und der Bildung von Zonen der LV für die Infanterie- und Panzerdivisionen der 1. Staffel und die Luftverteidigungsdivisionen sowie deren Führung  durch den Oberkommandierenden der GSSD hatte. Damit sind so grundsätzliche, auch völkerrechtliche Komplexe wie das Diensthabende System der Warschauer-Pakt-Organisation, Militärpaktkompetenzen, internationale Luftraumabsicherung,  Militärdoktrinen und staatliche Souveränitätsfragen berührt. Hervorzuheben ist eine in jeder Hinsicht herausragende analytische Darstellung von Schunke „Die Luftstreitkräfte/Luft- verteidigung der DDR  von 1989 bis 1990 - Tatsachen und Zusammenhänge“. Beide Bände liefern außerordentlich verdienstvolle realistisch-objektive (ost-)deutsche Beiträge zur Luftwaffen-Geschichtsschreibung der DDR im Rahmen von globaler Geschichte, bei der es immer noch hier und da Lücken zu schließen gilt.



Souveränität des Luftraums

Zur gleichen Zeit veröffentlichte Julian-André Finke seine Dissertation unter dem Buchtitel „Hüter des Luftraumes?“ 3) (Eine ausführliche Einschätzung des Rezensenten siehe „Neues Deutschland“ vom 9.12.2010, S. 17; nachzulesen auch unter www.nva-forum.de vom 9.12.2010). Er beschäftigt sich mit  den LSK der DDR im Diensthabenden System (DHS) des Warschauer Paktes, einem militär- und bündnispolitischen Komplex riesigen Ausmaßes, der sich lange vor der Geburt des 29jährigen Autors herausbildete und noch während seiner Kindheit zusammenbrach. Fehlende Erfahrungen und mangelnder Einblick in die praktische Seite werden von ihm mit Erfolg wettgemacht durch ein umfassendes Materialstudium. Ganz offensichtlich stand ihm dabei der gesamte heute im  Bundesarchiv-Militärarchiv und in anderen Dienststellen befindliche Fundus der östlichen Seite (auch Dokumente der höchsten Geheimhaltungsstufe) permanent und uneingeschränkt zur Verfügung. Das schließt das System des Warschauer Vertrags in seiner bis dahin beispiellosen Praxis des Zusammenwirkens ein, das bis heute völlig unzureichend untersucht und forschungsmäßig erschlossen ist. Finke leistet einen bemerkenswerten Beitrag dazu. Er beschäftigt sich besonders mit der Problematik staatlicher Souveränität im Zusammenhang mit dem DHS. Aus der Tatsache, daß die Luftraumüberwachung gemeinsam mit den im Lande stationierten Verbänden der militärischen Hauptmacht des Warschauer Vertrags erfolgte, die logischerweise über ein unvergleichlich größeres Potential verfügte, das Nichtvorhandensein staatlicher Souveränität oder deren bis zur Unkenntlichkeit reichenden Einschränkung im Falle der DDR abzuleiten, erscheint unverständlich. Unter den seinerzeit gegebenen Bedingungen war klar, daß keine einzelstaatliche Luftraumhoheit bzw. -souveränität eines Mitgliedstaates des Warschauer Vertrags oder genauso der NATO auch nur vorübergehend uneingeschränkt sein konnte. Auf die DDR traf das seinerzeit genauso zu, wie es auf die Bundesrepublik zutraf und heute noch zutrifft. Es ist also ungerechtfertigt, den Eindruck zu erwecken, als wäre dies eine DDR-Spezifik gewesen. Von da an ist es, wenn man so will, ein kurzer Weg von beschränkter Souveränität des DHS über die entsprechende Charakterisierung der NVA  bis zur Infragestellung der Souveränität der DDR als Staat überhaupt. Der Rezensent ist der Meinung, daß Souveränität generell  bei allen in kollektiven Verteidigungsbündnissen agierenden Staaten unterschiedlichen Gewichts zumindest partiell auf der Strecke bleibt.  Für die Bundesluftwaffe muß bei solchen Vergleichen festgehalten werden, daß es auch für sie entscheidende Vorbehalte der USA und der NATO gab und gibt.

Begrifflich geht Finke etwas oberflächlich an die Frage des DHS heran, wenn er immer wieder – trotz korrigierender Hinweise bereits bei Debatten im Vorfeld der Verteidigung der Dissertation – ein Gleichheitszeichen setzt zwischen DHS und einheitlichem System der Luftverteidigung des Warschauer Vertrages. Ersteres ist ein abgeleiteter, wenn auch außerordentlich gewichtiger, unverzichtbarer Teilkomplex des letzteren. Im Falle der DDR bildeten nicht die Luftstreitkräfte als solche das DHS, sondern die Jagdfliegerkräfte, die Fla-Raketentruppen und die Funktechnischen Truppen der LSK/LV sowie das dazu gehörende spezielle Führungssystem, von einem bestimmten Zeitpunkt an auch - unter Federführung des Kommandos LSK/LV - die Truppenluftabwehr und die  Hubschrauberkräfte der Landstreitkräfte, der Volksmarine und der Grenztruppen, die auf der Basis Funktechnischer Kompanien in der 1. Linie stationiert waren.  Dieses DHS bestand und wirkte bis zum 2.10.1990, 24.00 Uhr.




LSK und Rüstungsproduktion

Erstmalig legt Uwe Markus mit „Waffenschmiede DDR“ 4) das Resultat einer jahrelangen  tiefgründigen und weitgehenden Recherche von lange Zeit geheimem Quellen- und Archivmaterial (u.a. Interna aus dem Nationalen Verteidigungsrat, aus zahlreichen Ministerien sowie aus der Verwaltung Technik und Bewaffnung des Ministeriums für Nationale Verteidigung) sowie ausführlichen Zeitzeugenberichten zur Rüstungsproduktion in der DDR vor, die selbst Insider als sensationell ansehen. Dieser militärökonomische Bereich, der auch einen beachtlichen Teil der Exportwirtschaft ausmachte, unterlag höchster Geheimhaltung und wurde – soweit möglich – von den Sicherheitsorganen stabil abgeschirmt. Vielfach lagen die einschlägigen Produktionstätten mit verschwiegenen Arbeitskräften in kleinen abgelegenen  Dörfern oder auch in Erholungsgebieten. Der Band enthält eine über weite Strecken sehr instruktive Bebilderung. Eine Irritation des Lesers wird allerdings durch das Cover-Foto hervorgerufen. Es handelt um den großkalibrigen sowjetischen Raketen-Komplex 2 K 11 „Krug“, der nie in der DDR hergestellt wurde. Dieser fest begrenzte, dem Umfang nach dennoch recht bedeutsame Teil der DDR-Wirtschaft – in den zivilen Ministerien „spezielle Produktion“ genannt und über die Außenhandelsunternehmen IMES und ITA vorwiegend mit den sozialistischen Ländern, aber partiell auch mit Ländern des nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes abgewickelt - erfüllte mit großen wirtschaftlichen Anstrengungen und hohem technischen und intellektuellen Aufwand Bündnisverpflichtungen, die naturgemäß auch den Lebensstandard berührten. Er war hochgradig koalitionspolitisch abhängig – besonders von der Sowjetunion – und nicht in jedem Fall trafen entsprechende Festlegungen immer auf volles Verständnis aller Partner in der DDR. Natürlich wurden durch diesen Sektor auch die eigenen Streitkräfte auf bestimmten Gebieten versorgt. So erhielten die LSK/LV Fallschirme und Bremsschirme mit Weltniveau, Flugsicherstellungs- technik, Funkmeßtechnik, Luftabwehrtechnik, Flugzeugbaugruppen und -ersatzteile, Strahltriebwerke und Hubschraubertriebwerke zur Instandsetzung u.a.m. Der abgeschirmte VEB Instandsetzungswerk Pinnow in der Nähe der Oder sicherte die Gefechtsbereitschaft der Raketentechnik der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung und damit deren Beitrag zum Diensthabenden System des Warschauer Vertrages, des massivsten Luftverteidigungssystems Europas. Das IWP war auf eine Vielzahl sowjetischer Raketenkomplexe spezialisiert und unterstützte damit auch die Armeen der befreundeten Staaten. Ein wichtiges Tätigkeitsfeld war die Instandsetzung der Freund-Feind-Kennanlagen der Luftwaffe und der Wetterradargeräte der Raketentruppen. In Pinnow befand sich auch die Raketenkontroll- und Prüfwerkstatt des Kommandos LSK/LV.      

Viele Produkte und deren technische Unterlagen stießen nach der „Wende“ nachweislich auf das Interesse des BND und der CIA sowie westdeutscher und amerikanischer Konzerne, so das aus der sowjetischen „Kalaschnikow“ AK 47 im kleinen Ort Wiesa bei Annaberg im VEB Geräte- und Werkzeugbau weiterentwickelte Sturmgewehr AK 74 und die Neuentwicklung  „Wieger StG 940“ ( „Wieger“ steht für Wiesa Gerätebau und nicht – wie oft behauptet – für Wiesa Germany), deren Produktion in den USA verbürgt ist (Aktion „50 verschwundene Wiesaer Kisten“).



Gründerväter

Der 2010 wiedergegründete Militärverlag Berlin leistete mit Jörn Lehweß-Litzmanns „Die Gründer der DDR-Luftfahrt“ 5) einen wichtigen Beitrag zur Geschichtsschreibung der ostdeutschen Zivil- und Militärluftfahrt. Anknüpfend an die Traditionen der 20er Jahre entstand aus den Ruinen im Osten Deutschlands 1955 die Deutsche Lufthansa, parallel dazu und ab 1963 als einzige Gesellschaft in der DDR  die Interflug. Der Autor schildert die Bemühungen der Gründerväter, die teils aus dem Exil, teils aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft kamen, die einen mit Erfahrungen aus der Zivilluftfahrt, die anderen aus der faschistischen Luftwaffe, alle mit demokratisch-antifaschistischen Vorstellungen. Sein Vater, ehemaliger Oberst der Nazi-Luftwaffe und durch die Schule des NKFD und des BDO gegangen, wurde zunächst einer der Gründer der Vorläufer der ostdeutschen Luftstreitkräfte. Er fungierte erfolgreich als Stellvertretender Chef der Verwaltung der LSK und Leiter der Abteilung fliegerische Ausbildung, danach als Kommandeur der Fliegerschule Kamenz/Bautzen. Später wurde er Direktor des Flugbetriebs bei Lufthansa/ Interflug und bildete ganze Generationen von Flugzeugführern aus. Das Buch mit den sieben Porträts ist eine Würdigung all der Flieger und Flugtechniker, die den Weg der DDR-Luftfahrt in die weite Welt einleiteten, ebneten und erfolgreich beschreiten halfen, bis ihr Werk 1990 in die politisch begründete Zwangsliquidation geführt wurde.



Teilstreitkraft LSK/LV

Ein ausgesprochen interessanter Sammelband „Erlebtes und Geschaffenes. Beiträge zur Geschichte der Luftstreitkräfte . . .“ 6) behandelt das Gesamtsystem der Teilstreitkraft LSK mit ihren drei  auf Grund der internationalen und speziell europäischen Situation des Kalten Krieges einer stetigen Modernisierung unterliegenden Waffengattungen (Teilsysteme) Jagdfliegerkräfte, Fla-Raketentruppen und Funktechnische Truppen und deren Wirkungsweise und quantitative und qualitative Entwicklung. Die Luftstreikräfte/Luftverteidigung haben – so die Herausgeber - „gewissenhaft mit einer hohen Kompetenz und Einsatzbereitschaft zur Erhaltung des Friedens in Europa beigetragen“. Ein wichtiges Feld dabei war die Zusammenarbeit mit der 16. Luftarmee und der Luftverteidigung der GSSD.   

Nach fast zehnjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstand schreiben einstmalige Geschichtsgestalter, einstmalige militärische Akteure verschiedener Ebenen und Stufen, aus höchsten Stäben und aber auch von der Basis, aus Verbänden, Truppenteilen und Einheiten sowie Kasernen,  über ihr Geschichte gewordenes Leben und über ihr (zumeist) lebenslanges militärisches Wirken.  Generale und Offiziere a.D. aus der Generation, die auf Grund ihres Alters  hohe spezifische Kenntnisse und persönliche Erlebnisse in eine moderne Militärgeschichts- schreibung einbringen können, taten sich zusammen, um Historie „aus erster Hand“ zu vermitteln und dabei auch auf Aufs und Abs einzugehen.

Ehemalige Chefs und Leiter in den Waffengattungen, Spezialtruppen und Diensten schreiben über Dienstbereiche wie die Stabsarbeit und die operative Arbeit, das Nachrichten- und Flugsiche- rungssystem, die funkelektronische Kampfführung, den chemischen und den meteorologischen Dienst, die Fla-Raketentruppen, automatische Führungssysteme, die fliegerische und Gefechtsausbildung, den Flieger-Ingenieurdienst, den Funkmeß-Ingenieurdienst, die politische Arbeit, die Tätigkeit der Lehreinrichtungen, die Rückwärtigen Dienste und vieles andere. Auffällig auch die durchgängige Personalisierung und Lokalisierung der Ereignisse, was zu DDR-Zeiten nicht üblich war. Der Band enthält diverse Anlagen, Anhänge, Übersichten (Standorte, Manöver und Übungen), Schemata sowie umfangreiches Bildmaterial.      


Der von Siegfried Langer in weitgehender Eigeninitiative und im Eigenverlag herausgegebene Band „Flugzeugführer der NVA“ 7) - inzwischen im allgemeinen als Band 2 der vorangegangenen Publikation betrachtet - behandelt in überzeugender  Sachkenntnis ausführlich die  Entwicklung der LSK-Waffengattung  Jagdfliegerkräfte (und andere Fliegerkräfte). Er hebt hervor, daß es ihm aus negativen Erfahrungen heraus dabei auch darum geht, diese Feld nicht „Fremden“ zu überlassen, die mangelnde Kenntnis durch politisch geprägte „Vorgaben“ ersetzen. Er schildert kenntnisreich die Entwicklung vom Referat z.b.V. Luft als Keimzelle von Luftstreitkräften über die Volkspolizei Luft, die Verwaltung der Aeroclubs, die Verwaltung Luftstreitkräfte zum Kommando LSK/LV. Dabei geht er auch ein auf die immer schon etwas irritierenden Strukturelemente Frontfliegerkräfte, Front- und Armeefliegerkräfte sowie Front- und Transportfliegerkräfte und deren sogenanntes Führungsorgan und dessen mehrfach wechselnde Unterstellung unter das Kommando LSK/LV oder das Kommando Landstreitkräfte. Im Mittelpunkt stehen die ersten 155 mit  Hilfe des seinerzeitigen sowjetischen Lehrregiments ausgebildeten Flugzeugführer, der Lehrgang 200 in Pinnow und Pirna,  der Lehrgang X in der Sowjetunion und die Flugzeugführer-Lehrgänge 1 bis 18, in deren Ergebnis 270 Flugzeugführer ausgebildet wurden. Nicht vergessen werden dabei die Strukturelemente Flugmedizinische Kommission, Konditionstraining, Fallschirm- und Rettungsdienst. Von der fast legendären Jak 18 und der Jak 11 führten 9 Umschulungsaktionen in der Sowjetunion zur MiG-29A bei den Jagdfliegern, zur Su-22M4 bei den Jagdbombenfliegern und zur Mi-24D bei den Kampfhubschraubern. Das ganze wird untersetzt durch eine ausführliche (meines Erachtens nach einmalige) Chronik.

Einen Hauptteil des Buches macht die exakte Darstellung der militärischen, der technischen und der politischen Ausbildung und Weiterentwicklung der Flugzeugführer aus, die zum anerkannten außerordentlich hohen Ausbildungsstand auf Jagdflugzeugen von der 1. bis zur 5. Generation führte. 1988 besaßen die LSK/LV der DDR 282 einsatzbereite Kampfflugzeuge in 6 Jagdflieger- geschwadern, 2 Jagdbombengeschwadern und 1 Aufklärungsflieger-Staffel mit ausreichend hochqualifizierten Piloten. An dieser Stelle erinnert sich der Rezensent an ein Streitgespräch 2009 in Manta/Ekuador bei der Auflösung des dortigen US-Luftstützpunktes, wo behauptet wurde, daß die DDR doch gar keine fliegenden Einheiten gehabt habe. Er denkt auch an die in einer Vorlesung des Inspekteurs der Bundesluftwaffe 2007 in Potsdam getroffene Behauptung, die DDR-Luftstreitkräfte selbst hätten auf ihrem eigenen Territorium gar kein fliegendes Personal ausgebildet! Langers Band behandelt auch die gültigen internationalen Abkommen, die den Luftraum betreffen. In diesem Zusammenhang geht er auf die en masse praktizierten “Zwischenfälle im Luftraum“ mit hohem internationalen Gefährdungsgrad durch westliche Militärmaschinen über dem DDR-Territorium ein, denen insgesamt lediglich drei durch sowjetische bzw. DDR-Maschinen verursachte gegenüberstehen.



Breite Ausbildungsprofile

Ein hervorragendes Beispiel für den Umgang mit der Geschichte einer militärischen akademischen Lehranstalt und deren uneingeschränkte Einordnung in das politische Umfeld des Staates und den großen internationalen Rahmen bietet „Begeisterung-Enttäuschung-Selbstvertrauen. Offiziersschule der LSK/LV . . .“ 8) von Herbert Bellanger (Hrsg.). Die OHS Kamenz hat einen herausragenden Beitrag zur Entwicklung der Militärluftfahrt, aber auch des Hochschulwesens in der DDR – übrigens  mit einer einmaligen Spezifik bis weit in die Nachwendezeit hinein – geleistet, wie der Band eindeutig beweist. Die Hochschule und ihr Lehrpersonal  führten trotz der offiziellen Schließung ihre letzten Absolventen mit Unterstützung der Technischen Universität Dresden und des Technikums Kamenz bis 2003 zu ordnungsgemäßen Diplomen bzw. anderen Abschlüssen und waren aktiv an der Konversion des früheren Kasernengeländes sowie des Flugplatzes bis zum Jahr 2008 beteiligt. Das Buch verbindet in ausgezeichneter Weise das Grundsätzliche mit den persönlichen Erinnerungen der 82 Autoren. Die Geschichte der OHS reicht vom Eintreffen der ersten Ausbildungsmaschine Jak-18 1952 über den Weltraumflug ihres Kursanten Sigmund Jähn bis zur Mitarbeit an der Militärreform der NVA und zur Übernahme durch die Bundeswehr.

Die Autoren behandeln in aller Gründlichkeit in 14 Kapiteln die Ausbildungstätigkeit der Sektionen Militärflieger, Fliegeringenieurdienst, Fla-Raketentruppen, Funktechnische Truppen, Führungsorgane, Rückwärtige Dienste und Politische Arbeit. Daneben erhielten die angehenden männlichen und weiblichen Offiziere eine Ausbildung in Ingenieurtechnischen Grundlagen, Mathematik, Kulturpolitik-Ästhetik, Gesellschaftswissenschaften, Militärische Körperertüch- tigung und Sprachen. Der Lehrkörper leistete eine umfangreiche Forschungs- und Publikationstätigkeit. Die OHS hatte das Diplom- und das Promotionsrecht. Ausführliche Übersichten und eine umfangreiche Chronik sind  im Buch enthalten.

Kritisch muß angemerkt werden, daß die hervorragende Arbeit der Sektion Ausländische Militärkader, die von 1978-1989 Ausbildungshilfe für die Luftstreitkräfte befreundeter Staaten in der Dritten Welt leistete (z.B. Libyen, Syrien, Mocambique, Koreanische VDR),  im Band – im Gegensatz zu allen anderen Sektionen -  mit keinem Wort Erwähnung findet.

 

Die historischen  Rahmenbedingungen und das kommunale Lokalkolorit für das Leben und die Ausbildung an der OHS machen Gerhard Kaiser/Jürgen Busch mit ihrem Buch „Flugplatz Kamenz. Vom Exerzierplatz zum Verkehrslandeplatz“ 9) sichtbar. Die ehemalige Garnisonstadt begeht in diesem Jahr das Jubiläum „100 Jahre Fliegen in Kamenz“ und blickt damit auf  eine wechselvolle Geschichte des Flugplatzes von der Kaiserzeit bis heute zurück. Stets war diese Geschichte von der Politik abhängig, so auch in der Zeit mit den Luftstreitkräften der NVA.

  

  

Seinerzeit erste Abrüstungsschritte

Auch in der Geschichtsschreibung einzelner Geschwader bzw. Regimenter zeigen sich 2010/11 erstaunliche Aktivitäten hinsichtlich der Erforschung der eigenen Geschichte unter den spezifischen Bedingungen der betreffenden 45 Jahre. Als Beispiele dafür sollen „In Ehren außer Dienst gestellt“ - Hrsg.  Peter Misch 10) - und  „Die Regierungsflieger“ von Dietbert Lang 11) genannt werden. Im ersteren Falle handelt es sich um den international stark beachteten Werdegang des Jagdgeschwaders 7 „Wilhelm Pieck“, einer der Truppenteile mit dem höchsten Ausbildungsstand, der1989 „Opfer“ der von der DDR einseitig und ohne jegliche Vorbedingungen politisch demonstrativ ausgelösten  Abrüstungsschritte wurde. Unter großer internationaler Teilnahme erfolgte die Außerdienststellung von 50 einsatzbereiten MiG 21 des JG  7 und  der Beginn ihrer Verschrottung auf dem Flugplatz Drewitz. Der kurz vor dem Erscheinen stehende zweite erwähnte Band beschäftigt sich mit dem im seinerzeitigen Marxwalde stationierten Transportfliegergeschwader 44, das viele Jahre im Blickpunkt des internationalen Interesses stand und sich großer Aufmerksamkeit erfreute. Das TG 44 galt – vielfach völlig zu Unrecht – als geheimnisumwobene Truppe, wurden mit seinen Maschinen doch die Staatsbesuche der Partei- und Staatsführung in aller Welt, vielfach aber auch internationale Einsätze im Rahmen der Solidaritätsaktionen der DDR in Ländern der Dritten Welt absolviert. Ein hervorragendes Beispiel für Truppenteil-Geschichtsaufarbeitung erschien nach Fertigstellung dieser Übersicht in Gestalt von Burghard Keuthes „Das Fla-Raketen-Regiment 13“ 12).



Modernste Waffengattung

Der zweiten wichtigen Waffengattung der LSK/LV, den Fla-Raketentruppen, sind drei Veröffentlichungen gewidmet: „Die Fla-Raketentruppen . . .“ von Bernd Biedermann/Siegfried Horst (Hrsg.) 13), „Offizier bei den Fla-Raketen der NVA . . .“ von Siegfried Horst 14) und -  wegen des Zusammenwirkens hier erwähnt - von Paul Kneiphoff/Michael Brix (Hrsg.) „Die Truppenluftabwehr der NVA“ 15). Zu Wort kommen durchweg erfahrene und ausgewiesene Fachspezialisten, die in der Praxis und in der Führung der Fla-Raketentruppen (FRT) langjährig tätig waren. Ihre vermittelte, reichlich bebilderte Innenansicht der FRT zeigt, daß sie mit dem Herzen dabei waren, aber dennoch auch kritische Feststellungen für unumgänglich halten. Die Forcierung dieser wohl bezogen auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt modernsten Waffengattung und die Festlegung, ab 1958 innerhalb von nur vier Jahren 5 komplette Fla-Raketen-Regimenter aufzustellen, waren der seinerzeit zunehmenden Schärfe der Auseinandersetzung zwischen den beiden Militärblöcken geschuldet ( auf NATO-Seite wachsende Zahl moderner strategischer Bomber und Atomwaffen tragender Überschall-Kampfflugzeuge, immer schneller und höher fliegende Aufklärungsmaschinen, die mit Rohr-Flak-Geschützen nicht mehr erreichbar waren, schließlich die Kuba-Krise 1962). Damit hatte der Ausbau der FRT aus Sicht des östlichen Bündnisses eine echte friedenssichernde Funktion, die militärische Auseinandersetzungen eindeutig verhindern half. Biedermann unternimmt in  seinen Artikeln (erstmals?) den Versuch des Vergleichs der DDR-FRT mit dem damaligen entsprechenden Bundeswehr- Potential in Bezug auf Potentialität und Modernisierungsgrad und kommt dabei zu der Auffassung leichter ostdeutscher Vorteile. Er behauptet, daß heute der gesamte deutsche Luftraum durch die NATO nur unzureichend gedeckt ist und die NATO bis heute über kein den russischen Fla-Raketensystemen gleichwertiges System verfügt. Diese Debatte besitzt hochaktuelle Bedeutung für die noch immer nicht abgeflaute Auseinandersetzung um die im mitteleuropäischen Raum (besonders Polen und Tschechien) angeblich unabdingbare Stationierung von Raketenabwehrmitteln durch die USA.

Die ständige gegnerische Vervollkommnung der technischen und flugtaktischen Gefechts- eigenschaften der Luftangriffsmittel  erforderte im Interesse einer wesentlich erhöhten Abwehreffektivität zwingend die Ersetzung der Rohr-Flak-Artillerie und der Flak-Regimenter durch die neue moderne Waffengattung der FRT und entsprechende Regimenter und Brigaden, ausgerüstet mit Raketenkomplexen sowjetischer Bauart. Das setzte ein Riesenprogramm voraus zur Anschaffung der Komplexe und ihres Zubehörs, die Errichtung der Feuerstellungen und neuer Kasernen, die Einführung automatisierter Führungssysteme, die Ausbildung der Besatzungen in der DDR und vor allem zunächst in der Sowjetunion und die Schaffung eigener Lehr- und Ausbildungseinrichtungen. Ständige Überprüfungen unter realen Gefechtsbedingungen schufen Schritt für die Schritt die Bedingungen für die Aufnahme ins DHS. Die regelmäßige Einführung neuer, fortgeschrittenerer Komplexe schuf mit der Einführung des S-300 PMU eine völlig neue Dimension technischer und persönlicher Anforderungen. Übrigens war die DDR das einzige Land, das diese Spitzentechnik – neben der UdSSR – besaß.

Ähnliche Prozesse vollzogen sich bei der Truppenluftabwehr (TLA) der Landstreitkräfte, die ihre Truppen, Objekte und Räume zu decken hatte. Die neue Raketentechnik garantierte eine höhere Mobilität (Kettenfahrzeug-Lafetten), ständige Gefechtsbereitschaft eines großen Teils der Batterien, schnellere Feuerbereitschaft, und eine größere Vernichtungswahrscheinlichkeit und wurde ausgerüstet mit hochmodernen, leistungsstarken Funkmeßaufklärungsmitteln – alles in allem also war ein wesentlich höherer Kampfwert das Resultat. Daraus ergab sich die Anforderung des koordinierten Zusammenwirkens der TLA der Landstreitkräfte mit den FRT und den Jagdfliegerkräften der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung im DHS. Die Autoren verweisen mehrfach darauf, daß sich neben den riesigen Fortschritten zugunsten des Abwehrpotentials naturgemäß auch schwerwiegende Probleme  und ernsthafte Differenzen zwischen den Führungsstäben der beiden Teilstreitkräfte und in manchen Fällen auch mit dem sowjetischen Hauptstab in Wünsdorf  einstellten, von denen manche im Ernstfall zu schweren Verlusten hätten führen können.

 

      

Militärisches Ferienparadies

Ein letzter Farbtupfer in unserem Überblick ist „Sommerflug zur Insel“ von Gerd Tiedke 16). Der Autor bezeichnet seine Erzählung als späte Hommage an eines der größten DDR-Kinder-ferienlager. Es handelt sich dabei um das MZO 14 der LSK/LV (Mehrzweckobjekt 14) oder im Klartext: um das stationäre Kinderferienlager „German Titow“ in der Nähe des Flugplatzes des Jagdgeschwaders 9 am Strand von Karlshagen auf Usedom, an das sich Eltern und damalige Kinder, die heute selbst Eltern sind, sicher immer noch gern erinnern. Zumindest ist der Titel im Buchhandel breit gefragt. Anfang der sechziger Jahre errichtet, beherbergte es in jedem Jahr in den unbeschwerten  Ferien etwa 2.400 Kinder in drei Durchgängen. Der Autor, seinerzeit Lehrerstudent, und seine im Lager als Gruppenerzieher eingesetzten Kommilitonen erinnern sich immer noch gern an die dortigen Aufenthalte. Zu den Erinnerungen gehören nicht zuletzt die Flüge nach und von Karlshagen mit einer An-26 einer Transportflieger-Staffel.



Rezensierte Literatur


  1. Froh, Klaus: Chronik der NVA, der Grenztruppen und der Zivilverteidigung 1956-1990. Verlag Dr. Köster, Berlin 2010, 778 S.
  2. Was war die NVA? Zapfenstreich. Studien – Analysen – Berichte zur Geschichte der Nationalen Volksarmee. Eigenverlag der AG Geschichte der NVA und Integration ehemaliger NVA-Angehöriger in Gesellschaft und Bundeswehr im Landesverband Ost des Deutschen    BundeswehrVerbandes, Berlin 2010, 664 S.
  3. Finke, Julian-André: Hüter des Luftraumes? Die Luftstreitkräfte der DDR im Diensthabenden System des Warschauer Paktes. Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 396 S.
  4. Markus, Uwe: Waffenschmiede DDR. Militärverlag, Berlin 2010, 288 S.
  5. Lehweß-Litzmann, Jörn: Die Gründer der DDR-Luftfahrt. Militärverlag, Berlin 2010, 288 S.
  6. Erlebtes und Geschaffenes. Beiträge zur Geschichte der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der Nationalen Volksarmee der DDR. Eigenverlag der Arbeitsgemeinschaft „Geschichte der LSK/LV“, Strausberg 2009, 526 S.
  7. Langer, Siegfried: Flugzeugführer der NVA. Eigenverlag, Strausberg 2010, 468 S.
  8. Bellanger, Herbert/Autorenkollektiv: Begeisterung-Enttäuschung-Selbstvertrauen. Offiziershochschule der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung „Franz Mehring“. Geschichte und Geschichten. Verlag AEROSHOP GmbH, Kamenz 2011, ca. 300 S. (erscheint  im  März  2011)
  9. Kaiser, Gerhard/Buch, Jürgen: Flugplatz Kamenz. Vom Exerzierplatz zum Verkehrslandeplatz. Verlag AEROSHOP, Kamenz 2005 (Neuauflage demnächst), 124 S.
  10. Misch, Peter (Hrsg.): In Ehren außer Dienst gestellt. Das Jagdfliegergeschwader 7 „Wilhelm Pieck“ der NVA. MediaScript GbR, Berlin 2010, 200 S.
  11. Lang, Dietbert: Die Regierungsflieger. Das Transportfliegergeschwader 44 der DDR. Militärverlag, Berlin 2011, ca. 224 S. (erscheint demnächst)
  12. Keuthe, Burghard: Das Fla-Raketen-Regiment 13 “Etkar André“ /Parchim. Technik – Einsatz – Chronik – Erinnerungen. Steffen Verlag,  Friedland 2011, 344 S.   
  13. Biedermann, Bernd/Horst, Siegfried: Die Fla-Raketentruppen der Luftverteidigung der DDR. Geschichte und Geschichten. Steffen Verlag, Friedland 2010, 416 S
  14. Horst, Siegfried: Offizier bei den Fla-Raketen der NVA. Erinnerungen und Gedanken. Verlag Dr. Köster, Berlin 2009, 170 S.
  15. Kneiphoff, Paul/Brix, Michael (Hrsg.): Die Truppenluftabwehr der NVA. Verlag am Park, Berlin 2005 (Neuauflage demnächst), 452 S.
  16. Tiedke, Gerd: Sommerflug zur Insel. Späte Hommage an eines der größten Kinderferienlager der DDR auf Usedom. Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2010, 138 S.