Prof. Dr. Walter Hundt, Fichtenwalde


Erschienen in: „WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik“, Potsdam/Poznan, Heft 83 (März/April 2012), S. 123-125


Minow, Fritz: Die NVA und Volksmarine in den Vereinten Streitkräften. Geheimnisse der Warschauer Vertragsorganisation. Steffen Verlag, Friedland 2011, 472 S.


Innenleben eines Bündnisses


Der Autor, Kapitän zur See a.D. der Volksmarine der NVA der DDR, war 40 Jahre im Flotten- und Stabsdienst, davon sechs Jahre im Stab der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrags in Moskau, tätig. Insider wie er merkten bald, daß hinter dem „unverbrüchlichen und brüderlichen politisch-militärischen Bündnis der europäischen sozialistischen Staaten“ zwischen der Gründung 1955 und seinem Ende 1991 von Anfang an auch Meinungsverschiedenheiten, Auseinandersetzungen und Interessenwidersprüche zwischen den einzelnen Staaten bestanden, über die aber kaum gesprochen wurde. Das Verhältnis UdSSR-DDR bezeichnet Minow als diffizil. Die Kombination von persönlichem  Erleben und eigenen Erfahrungen mit umfangreichen Archivstudien, darunter diverse politisch-militärische Geheimdokumente, führten zum vorliegenden Band, dem ein Dokumenten-Anhang, ein Quellen- und Literatur-Verzeichnis, ein Personen-Register, ein Abkürzungs-Verzeichnis und zahlreiche Fotos beigefügt sind. Dem Autor ist eine uneingeschränkt beispiellose Akribie bei der Behandlung der gewählten Komplexe zu bescheinigen , die in den sieben in historischer Abfolge (jeweils 1955-1991) aufgebauten Hauptkapiteln analysiert werden (jeweils Beratungen, Dokumentenaustausch, Beschlüsse, Wertungen).


Eingangs geht es um die Gründung der Warschauer-Vertrags-Organisation  mit ihren verschiedenen Gremien und Institutionen im Mai 1955 durch die acht europäischen sozialistischen Staaten bei Teilnahme Chinas als Beobachter, das neben der Mongolei, Vietnam und Nord-Korea auch in der Folgezeit mit diesem Status teilnahm. Hinter dem scheinbar festgefügten Bündnis wurden recht bald scharfe Widersprüche unterschiedlicher Couleur sichtbar. In den 10 Jahren unter  Chruschtschow kam es kaum zu nennenswerten Aktivitäten, selbst die Formierung des Stabes wurde ewig hinausgeschoben. An der Arbeitsweise der Gremien wurde - abgesehen von den politisch bedingten bekannten rumänischen Nörgeleien - mehrfach Kritik geübt. Die DDR ergriff mehrere Initiativen zur Verbesserung der Führungsarbeit und der (von der sowjetischen Führung bestimmten) Funktionsweise der Organe. Nach und nach wurden von sowjetischer Seite sich immer mehr verschärfende Forderungen an die militärischen personellen und materiellen  Anstrengungen und  Aufwendungen der Mitgliedsländer erhoben, so daß der polnische Präsident Jaruzelski mehr Realismus der Konzeptionen und Pläne einschließlich der Planung der Übungen forderte. Die UdSSR versuchte z.B. jahrelang, die DDR zu zwingen, U-Boote zu bauen. Minow schildert aber auch die beachtenswerten Leistungen, die in den mehr als drei Jahrzehnten gemeinsam vollbracht wurden. Eine Hilfe für die NVA war der Einsatz von mehr als 500 sowjetischen Beratern und Militärspezialisten.


Ein wichtiges Feld war die militärisch-wirtschaftliche Zusammenarbeit im Pakt, die über den RGW bearbeitet wurde (zwischenstaatliche Spezialisierung, Lizenzaustausch, gegenseitige technische Hilfe). Es entstand eine neue Ständige Kommission für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigungsindustrie mit Sektionen. Im DDR-Verteidigungs-ministerium wurde die Funktion eines Chefs für Wirtschaft mit einer Abt. Forschung und Entwicklung geschaffen sowie entsprechende hochrangige Planstellen beim Vorsitzenden des Ministerrats und bei der Staatlichen Plankommission.


Der Großteil der wichtigsten Fragen, darunter die der Führung der Vereinten Streitkräfte im Kriege,  waren im Prinzip – zumindest in den ersten Perioden der Entwicklung -  eine Domäne des sowjetischen Generalstabs (Minow). Die Hauptrichtungen der geplanten Entwicklung der Streitkräfte des Paktes wurden bearbeitet und entschieden im sowjetischen Generalstab, bestätigt im KPdSU-Politbüro, festgelegt hinsichtlich der Bewaffnung und Ausrüstung im Ministerrat der UdSSR, und die sogenannte Verplanung geschah in der sowjetischen Staatlichen Plankommission. Die Ausarbeitung der Bestimmungen des Statuts über das Vereinte Kommando und die Vereinten Streitkräfte wurde „großzügig“, aber autoritär im sowjetischen Oberkommando gehandhabt. Schwierigkeiten gab es bei der proportionalen Dienstpostenbesetzung. Sehr lange ungeklärt war die Frage, wer wie die Vereinten Streitkräfte im Kriegsfall führen sollte. Im sowjetischen Militärestablishment gab es ein langwieriges Gerangel diesbezüglich. Die „Wahl“ fiel schließlich auf Marschall der Sowjetunion Leonid Breshnew! Die von Erich Honecker geforderte Umbenennung des Hauptstabes der NVA in Generalstab – wie in den anderen Mitgliedländern – wurde von sowjetischer Seite abgewiesen.  

    

Komplizierte Maßnahmen bestanden  für die DDR darin, die Entwicklung der NVA zur Koalitionsarmee voranzutreiben. Dies schloß Schritte zur Raketenbewaffnung der Land-, Luft- und Seestreitkräfte und die Ausbildung zum Handeln unter Bedingungen eines Raketen-Kernwaffen-Krieges ein, wobei für die NVA entsprechend einer Geheimen Kommandosache sogenannte „spezielle Sprengladungen“ als Gefechtsköpfe auf dem Territorium der UdSSR gelagert wurden (!). Besonders schwierig wurde die Auswahl der Kader für die speziellen Raketeneinheiten. Von 11.000 vorgesehenen Offizieren wurden 1.100 dem MfS zur Überprüfung (einschließlich der Familien) vorgeschlagen, von denen 431 bestätigt wurden! Was die Wahrscheinlichkeit eines atomar ausgelösten Krieges betraf, ging die sowjetische Auslandsaufklärung Anfang der achtziger Jahre  vom unmittelbar bevorstehenden Ausbruch des 3. Weltkriegs aus, während die DDR-Aufklärung von ihrem Spitzenmann „Topas“ im BND die Information erhielt „Eine unmittelbare Kriegsgefahr deutet sich nicht an.“ Als kritikwürdig bezeichnete die NVA-Seite die Nichteinhaltung der Liefertermine bei der kampfkraftbestimmenden Bewaffnung durch die UdSSR (Panzer, Flugzeuge) und die ungenügenden Ersatzteillieferungen. In der DDR gebaute Kriegsschiffe galten zwar als Spitzenprodukte, wurden aber von den Partnern nicht gekauft.


Besonders kompliziert wurde es im dritten Jahrzehnt des Paktes politisch-inhaltlich durch die Auswirkungen des  XXVII. Parteitags der KPdSU, auf dem Gorbatschow das Zurücktreten der verstärkten militärischen Anstrengungen hinter die politischen und besonders ökonomischen Erfordernisse zur Maxime machte. Selbst Parität sei in der aktuellen militärisch-strategischen Situation kein Garant der Kriegsverhütung mehr. Das Kriegsbild wurde immer mehr ausschließlich von Verteidigung bestimmt. 1986 beschloß die Budapester Tagung des PBA die in vieler Hinsicht einseitige Reduzierung der Streitkräfte und der konventionellen Rüstungen, was von Teilen der sowjetischen Generalität - von Gorbatschow als  gefährliche Opposition bald zerschlagen - als offener Verrat angesehen wurde. Neuer Kurs: „Die Streitkräfte werden auf dem Niveau der Hinlänglichkeit zur Verteidigung gehalten“ (Armeegeneral Luschew 1989).  Der Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte nahm kaum noch Einfluß auf das Geschehen. Auch die DDR-Führung übte sich in Ignoranz angesichts der inneren Entwicklung in den Paktländern.


Ein problematisches partiell innenpolitisches Feld stellten folgende Probleme für die DDR-Seite dar: die GSSD als Verbündeter und gleichzeitig faktische Besatzungstruppe („offene“ Fragen der Stationierungskosten und -bedingungen; abkommenswidrige Befugnisüberschreitungen; laut Minow imperiales Verhalten bei „besonderen Vorkommnissen“; Luftraumverletzungen; Manöverschäden) und  die SDAG Wismut (Liefer- und Zahlungsbedingungen) – insgesamt Konfliktstoff, der 1988 sogar den Nationalen Verteidigungsrat unter Vorsitz Erich Honeckers beschäftigen mußte.


All diese Gegebenheiten sollten aber nicht darüber hinweg täuschen, daß die Paktorganisation insgesamt und viele tausend Soldaten ihrer Mitgliedstaaten jahrzehntelang den Frieden in Europa und in der Welt sicherten.