Prof. Dr. Walter Hundt, Fichtenwalde


Erschienen in: Neues Deutschland, Berlin, vom 9.12.2010, S. 17


Finke, Julian-André (2010): Hüter des Luftraumes? Die Luftstreitkräfte der DDR im Dienst- habenden System des Warschauer Paktes, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Ch. Links Verlag, Berlin, 396 S., 34 Anlagen


 Ja – Hüter des Luftraumes der DDR!


Das vorliegende Thema ist vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklung nach dem Ende des II. Weltkrieges und einer sich daraus ergebenden politischen Generallinie und Praxis der beiden großen politisch-militärischen Bündnissysteme angesiedelt. Das Diensthabende System (DHS) von Teilen der Streitkräfte der DDR und dessen Entwicklung hing von der weltpolitischen und besonders der europäischen Situation ab, wobei Erfahrungen auf den außereuropäischen Kriegsschauplätzen Auswertung und  Berücksichtigung erfuhren. Die Problematik stößt deshalb nicht nur auf das Interesse von Militärs und Militärwissenschaftlern, sondern auch auf das der Politikwissenschaft und ihrer sich auf die internationalen Prozesse konzentrierenden Bereiche.

 

J.-A. Finke, nach dem Studium der Geschichtswissenschaften an der Universität der Bundeswehr Hamburg und Tätigkeit am MGFA Potsdam, heute Lehrbeauftragter an der Universität der Bundeswehr München, beschäftigt sich in dem auf seine Dissertation gestützten vorliegenden Band  mit einem militär- und bündnispolitischen Komplex riesigen Ausmaßes, der sich lange vor seiner  Geburt herausbildete und noch während seiner Kindheit zusammenbrach. Fehlende Erfahrungen und mangelnder Einblick in die praktische Seite werden von ihm mit Erfolg wettgemacht durch ein mit großem Fleiß und Akribie betriebenes Quellenstudium und durch Diskussionen mit Fachleuten beider seinerzeitigen Systeme. Meines Erachtens absolvierte er  ein nach Umfang und Tiefe nahezu einmaliges Materialstudium, bei dem die Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (LSK/LV) der DDR auf der einen Seite, andererseits die damalige sozialistische Staatengemeinschaft einschließlich des Militärgiganten Sowjetunion den Forschungsgegenstand bilden. Das schließt das System des Warschauer Vertrags in seiner bis dahin beispiellosen Praxis des Zusammenwirkens ein, das bis heute völlig unzureichend untersucht und forschungsmäßig erschlossen ist. Finke leistet einen bemerkenswerten Beitrag dazu. Ganz offensichtlich stand ihm dabei der gesamte heute im Bundesarchiv-Militärarchiv und anderen Dienststellen befindliche Fundus der östlichen Seite permanent und uneingeschränkt zur Verfügung. Keine Beachtung fanden leider in jüngster Zeit erschienene einschlägige Veröffentlichungen ehemaliger Führungskräfte der LSK/LV. Das Materialverzeichnis läßt den Eindruck entstehen, daß  das Potential an Erfahrungen und Sachverstand sowie an entsprechenden Spezialkenntnissen derzeit noch zur Verfügung stehender Zeitzeugen von DDR-Seite - gewollt oder ungewollt - nicht den Möglichkeiten entsprechend genutzt wurde.

 

In zehn Kapiteln geht der Autor ein auf den Forschungsgegenstand und seine theoretischen Grundlagen, besonders die Problematik staatlicher Souveränität, auf die Aufstellung und Entwicklung der LSK/LV, die Vorgeschichte und die Rahmenbedingungen des Aufbaus des DHS der in Frage kommenden Teile der DDR-Streitkräfte und die (hier und da m.E. etwas willkürlich gewählten)  Etappen der Konsolidierung derselben. Der sich durch den Band ziehende, das Thema betreffende ausführliche historische Abriß ist korrekt und hochinteressant, nicht zuletzt durch die Möglichkeit der Auswertung  der Gesamtheit der NVA-Dokumente einschließlich des damals streng geheimen Teils. Der aufmerksame Leser ist als erstes konfrontiert mit einem Fragezeichen hinter dem Titel – eine bei Buchtiteln vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA) in jüngster Zeit oftmals angewandte Gepflogenheit. Es ist nur schwer vorstellbar, daß bei einem Fachmann und Insider, wie Finke ihn ungeachtet seines Alters von 29 Jahren darstellt, am Ende seiner Untersuchungen auch nur der geringste Zweifel daran bestehen konnte, daß die LSK/LV der DDR, ergänzt durch das militärische Potential der im Lande stationierten militärischen Hauptmacht des Warschauer Vertrags, Hüter des Luftraums ihres Staates waren. Was - in aller Offenheit gefragt – sollten sie denn ansonsten gewesen sein? Aus der Tatsache, daß die Luftraumüberwachung gemeinsam mit den im Lande stationierten Verbänden der militärischen Hauptmacht des Warschauer Vertrags erfolgte, die logischerweise über ein unvergleichlich größeres Potential verfügte, das Nichtvorhandensein staatlicher Souveränität oder deren bis zur Unkenntlichkeit reichenden Einschränkung im Falle der DDR abzuleiten, erscheint unverständlich. Unter den seinerzeit gegebenen Bedingungen war klar, daß keine einzelstaatliche Luftraumhoheit bzw. -souveränität eines Mitgliedstaates des Warschauer Vertrags oder genauso der NATO auch nur vorübergehend uneingeschränkt sein konnte. Auf die DDR traf das seinerzeit genauso zu, wie es auf die Bundesrepublik zutraf und heute noch zutrifft. Es ist also ungerechtfertigt, den Eindruck zu erwecken, als wäre dies eine DDR-Spezifik gewesen, nicht auf deren andere Partner oder etwa auch auf die NATO-Seite zutreffend. Ein Blick auf die Erfahrungen und die Praxis der NATO im letzten Jahrzehnt unterstreicht diese Auffassung. Selbst eine graduell abgeschwächte These „Hüter ja, aber nicht Herr im Hause“ stände nicht im Gegensatz zum oben vertretenen Standpunkt. Das große Fragezeichen auf dem Cover des Bandes 18 der Reihe „Militärgeschichte der DDR“ erweckt beim Leser eine falsche Vorstellung von der Realität und ist demzufolge überflüssig, es sei denn, es handelt sich um eine inhaltliche Ergebnisvorgabe als Fixum zu Beginn der Untersuchungen, was kaum angenommen werden darf (?). Auch als Hinweis darauf, daß der Autor eventuell über die gesamte Zeit hin keine völlig schlüssige Antwort herausgefunden hätte, kann das Fragezeichen angesichts des Gesamtergebnisse der Untersuchung  kaum gemeint sein.


Hervorzuheben ist das Bemühen des Autors um Objektivität über weite Strecken hin,  beispielsweise hinsichtlich der quantitativen und qualitativen Veränderungen des Gewichts der DDR  und ihr letztendlich bedeutender Kompetenzzuwachs im Zusammenwirken mit der GSSD (Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, später sowjetische Westgruppe der Streitkräfte-WGS). Daß es Diskrepanzen und unterschiedliche Auffassungen zwischen der sowjetischen und der DDR-Seite in bestimmten, keineswegs unwichtigen Detailfragen und Auslegungen gab, war innerhalb des NVA-Offizierskorps ein „offenes Geheimnis“(z.B. Differenz zwischen festgeschriebener und real wahrgenommener Lufthoheit, Vollmacht für Vernichtungsfeuer auf Eindringlinge, die nicht wirksam gewordene Schaffung von sechs Luftverteidigungszonen, faktische Rechenschaftspflicht des Chefs der GSSD gegenüber der DDR-Parteiführung u.a.m.). Die Situation in der NATO zeigt, daß  „Großmachtallüren“ nicht immer an eine bestimmte Gesellschaftsordnung gebunden sind. Ähnliches objektives Herangehen hätte auch einigen Passagen des theoretisch-verallgemeinernden Teils gutgetan. Zum Beispiel eine ausgewogenere, weniger ideologiegeprägte Charakterisierung Rußlands nach dem Abzug aus Deutschland, was sich bei Finke so liest: Interventionen, fortgesetzter Kalter Krieg und imperiale Willkür. Und das angesichts der Tatsache von US- und anderen NATO-Truppen in allen Winkeln der Welt mit riesigen Menschenopfern und Materialverlusten.     


Die persönliche Erfahrung des Rezensenten besagt, daß die Schaffung des DHS auf östlicher Seite auch etwas zu tun hatte mit ständigen Provokationen und Luftraumverletzungen durch den potentiellen Gegner. Das führte unumgänglich zu gewaltigen finanziell-materiellen Anstrengungen,  die im Laufe der Zeit bis an die Grenze des Machbaren gingen, wie auch der Autor mehrfach bestätigt. Begrifflich geht Finke etwas oberflächlich an die Frage des DHS heran, wenn er immer wieder – trotz korrigierender Hinweise bereits bei Debatten im Vorfeld der Verteidigung der Dissertation – ein Gleichheitszeichen setzt zwischen DHS und einheitlichem System der Luftverteidigung des Warschauer Vertrages. Ersteres ist ein abgeleiteter, wenn auch außerordentlich gewichtiger, unverzichtbarer Teilkomplex des letzteren. Im Falle der DDR bildeten nicht die Luftstreitkräfte als solche das DHS, sondern die Jagdfliegerkräfte, die Fla-Raketentruppen und die Funktechnischen Truppen der LSK/LV sowie das dazu gehörende spezielle Führungssystem, von einem bestimmten Zeitpunkt an auch - unter Federführung des Kommandos LSK/LV - die Truppenluftabwehr der Landstreitkräfte und Hubschrauberkräfte der Landstreitkräfte, der Volksmarine und der Grenztruppen, die auf der Basis Funktechnischer Kompanien in der 1. Linie stationiert waren.  Dieses DHS bestand und wirkte bis zum 02.10.1990, 24:00 Uhr.


Die theoretischen Versuche zur Definition des allgemeinen Souveranitätsbegriffs wirken angesichts des Gegenstandes der Anwendung etwas weit hergeholt und leicht antiquiert. Das Spezifische dabei besteht ganz eindeutig in der Reichweite der Problematik unter den Bedingungen des Kalten Krieges und darin, daß auf beiden Seiten der Trennlinie zwischen beiden damals bestehenden Systemen und ihren Paktorganisationen sowie deren Luftraum die nahezu permanent bestehende atomare Bedrohung aus der Luft gegeben war. Dabei darf die Supranationalität der Paktorganisationen und deren unumgängliche Konsequenzen und militärische Sachzwänge nicht übersehen oder unterschätzt werden. Beide deutschen Staaten waren „Frontstaaten“ mit besonderer Betroffenheit im Kriegsfall. So waren weder die DDR noch die Bundesrepublik personell und technisch  in der Lage, ihr Territorium „selbst und allein“ zu hüten und zu schützen. Eine gewisse begrenzte Souveränität ergab sich nicht zuletzt schon allein daraus. Finke differenziert bewußt, daß die DDR bezüglich des DHS über 30 Jahre hinweg eine stets wachsende, Souveränität stabilisierende Kompetenz zu verzeichnen hatte, aber seiner Auffassung nach in geringerem Maße als die Bundesrepublik. Das DHS der DDR sei - so Finkes „differenzierender Nachweisversuch“ - graduell besonders souveränitätsbeschränkt  gewesen,  auch im Vergleich mit ihren polnischen und tschechoslowakischen Nachbarn und vor allem durch das Wirken der GSSD. Der entscheidende Hauptgefechtsstand der GSSD in Wünsdorf war und blieb Zentrum und Herzstück des gemeinsamen DHS. Von da an ist es, wenn man so will, ein kurzer Weg von beschränkter Souveränität des DHS über die entsprechende Charakterisierung der NVA  bis zur Infragestellung der Souveränität der DDR als Staat überhaupt. Der Rezensent ist der Meinung, daß Souveränität generell  bei allen in kollektiven Verteidigungsbündnissen agierenden Staaten unterschiedlichen Gewichts zumindest partiell auf der Strecke bleibt.  Für die Bundesluftwaffe muß bei solchen Vergleichen festgehalten werden, daß es entscheidende Vorbehalte der USA und der NATO gab und gibt, z.B. der Anspruch auf uneingeschränktes Air Policing bis auf den heutigen Tag. Für die DDR als kleineren Partner erwuchs aber auch ein „Vorteil“ in Gestalt des technischen Potentials der UdSSR, das Sicherheit für das Territorium in erhöhtem Maße garantierte. Finke betont letztendlich, daß die DDR ein „Sonderfall“ und  nicht geeignet sei, als allgemeingültiges Fallbeispiel für die Souveränität koalierender Staaten zu dienen.