Prof. Dr. Walter Hundt, Fichtenwalde


Erschienen in: WeltTrends, H. 50, Frühjahr 2006, S. 170-172


Hans-Georg Schleicher, Südafrikas neue Elite. Die Prägung der ANC-Führung durch das Exil, Institut für Afrika-Kunde im Verbund Deutsches Übersee-Institut (Hamburger Beiträge zur Afrika-Kunde, Bd. 74), Hamburg 2004, 368 S.


ANC – gestern Exil, heute Elite


Der Autor ist zur Behandlung einer solch komplizierten Problematik geradezu prädestiniert, sowohl als ausgezeichneter Kenner der Materie als auch durch sein persönliches Vertrauensverhältnis zu ungezählten südafrikanischen Akteuren. Seine als Basis für die Erarbeitung der vorliegenden Studie dienenden Kenntnisse und Erkenntnisse erwarb er als Historiker und als DDR-Botschafter in Simbabwe und Namibia sowie diplomatische Tätigkeit in einer Reihe anderer Länder, nach der Wende als wissenschaftlicher Mitarbeiter an universitären Einrichtungen in Hannover, Berlin und Hamburg und in der Projektarbeit in Afrika.

Das Resultat seiner gründlichen Auswertung der wissenschaftlichen Literatur und von Memoiren, Quellensammlungen und Archivalien, besonders in Südafrika und Großbritannien, sowie der von ihm mit 19 führenden Zeitzeugen geführten Interviews führt dazu, daß jemand, der grundsätzliche Prozesse der Entwicklung Südafrikas kennenlernen, verstehen, analysieren und bewerten will, künftig kaum an diesem Buch vorübergehen kann. Dem Band sind recht informative Anhänge beigefügt (7 Tabellen, 4 Schaubilder, ausgewähltes Verzeichnis von südafrikanischen Persönlichkeiten des Befreiungskampfes, Auswahlbibliographie incl. Zeitungen, andere Periodika und Interviews).

Kern der Untersuchungen sind die sich nach der erzwungenen Flucht im Exil quantitativ und qualitativ anreichernden Schritte zur Vorbereitung einer späteren Machtübernahme, die Entwicklung des ANC und seiner Mitglieder (Robben Islanders, internals, exilists) zur Dominante der späteren (heutigen) politischen Elite, die Auswirkungen des Exils und der entsprechenden Erfahrungen auf die gesellschaftliche Entwicklung nach dem Ende der Apartheid, auf Politik und Strategie, auf das Verhältnis zwischen ANC, SACP/Kommunisten und Gewerkschaftsverband COSATU, aber nicht zuletzt auch auf die persönliche Entwick- lung.  Dabei sichert der Autor die oft übersehene, aber unumgängliche Einbettung der Problematik in den Ost-West-Konflikt.

In vier Kapiteln vermittelt Schleicher ein erstaunlich umfangreiches Quantum an wenig bekannten Fakten, gelangt zu interessanten politischen Schlußfolgerungen und theoretischen Verallgemeinerungen und gibt Anregungen für die weitere Forschung.

Er charakterisiert den Südafrika-Konflikt als einen der bedeutenden internationalen Konflikte des 20. Jahrhunderts, der lange Zeit von westlicher Seite ideologisch verortet und fehlbewertet wurde. Der ANC wird als älteste politische Bewegung Afrikas (seit 1912) behandelt, sein erzwungenes Exil in den 60er bis 90er Jahren und dessen Etappen als wesentlicher Bestandteil der jüngsten afrikanischen Geschichte und vorrangige identitätsstiftende Prägungsperiode der heutigen südafrikanischen Eliten.

Der Autor behandelt ausführlich die Exilzentren in Großbritannien sowie in Tanganjika/ Tansania und Ghana, später in den Frontstaaten rund um Südafrika. Mit seinen sich dort herausbildenden Strukturen (Hauptquartier, Auslandsbüros, Komitees, Unterkomitees und Kommissionen, Politisch-Militärischer Rat, Nationales Exekutivkomitee, Regionale Politische Komitees, zivile Bildungs- und Ausbildungsstätten, Kommandostrukturen und Ausbildungs- camps des militärischen Flügels Umkhonto we Sizwe, Diplomatenausbildung in der DDR) wird der ANC Schritt für Schritt im Laufe der Jahre zum „Staat im embryonalen Zustand“, zum „Staat im Exil“, zu einer „Regierung im Wartestand“.

Das nicht problemfreie Verhältnis zwischen ANC und SACP, als Faktor der Zusammenarbeit bereits in der 30er Jahren enstanden, wird in seiner Genesis untersucht, stets bestimmt vom Bestreben, die historische Wahrheit darzustellen, ohne den zahlreichen Fehlinterpretationen auf den Leim zu gehen, die entweder eine uneingeschränkte Dominanz der SACP über den ANC und teilweise sogar dessen „Übernahme“  konstruieren oder aber die Rolle der SACP bis zur Bedeutungslosigkeit reduzieren. Schleicher verweist auf die in der Literatur verbreitete Auffassung von der SACP als „fortlebendem Gewissen des ANC“, was angesichts der auch heute andauernden Auseinandersetzungen über das Fortbestehen der Allianz ANC-SACP-COSATU  bei den verschiedenen Gruppierungen in allen drei Organisationen von großer Bedeutung für das Begreifen der Gefährlichkeit der derzeitigen Sprengungsversuche ist.

Ausgesprochen interessant - nicht nur unter historischen Aspekten - sind auch die Untersuchungen über die jahrzehntelangen (und zum Teil bis heute andauernden) theoretischen und politischen Auseinandersetzungen über solche Problemkomplexe wie die seinerzeitige Kombination des friedlichen Kampfes mit dem militärischen Vorgehen, die damalige Auffassung über die sozialistischen Staaten als strategische Verbündete, ein sozialismus-ähnliches Gesellschaftsmodell einschließlich des Theorems von der nationaldemokratischen Revolution, idealisierte Demokratie-Vorstellungen u.a.m. Zweifelsohne beeinflussen im Exil gewonnene Erfahrungen und Erkenntnisse die Positionen, Haltungen und Handlungen der Funktionäre in Staat, Partei, Gewerkschaften und in anderen gesellschaftlichen Bereichen, wenngleich sie bei vielen maßgeblichen Ex-Exilanten heute deutlich sichtbaren Wandlungen unterworfen sind, speziell auf wirtschafts-programmatischem und auch innenpolitischem Gebiet.

 

Nach dem Vorliegen einer derartig umfassenden und tiefgründigen Untersuchung erscheint es dem Rezensenten, der selbst an einer Vielzahl von Ausbildungsmaßnahmen für ANC-Funktionäre aller Altersgruppen und funktionalen Ebenen und Bereiche beteiligt war, wünschenswert, diese zu ergänzen durch die ausführlichere Einbeziehung des nicht-britischen europäischen Exils (besonders Skandinavien, Sowjetunion und osteuropäische Staaten einschließlich der DDR), Chinas, Vietnams und Kubas sowie der afrikanischen „Nicht-Frontstaaten“.