Prof. Dr. habil. Walter Hundt


Rede auf der Klausurtagung des Interdisziplinären Arbeitskreises für Entwicklungsländerforschung im Oktober 1994 in Basel, Nachdruck in: „Social Strategies“, Vol. 27: Krisenkontinent Afrika. Ansätze zum Krisenmanagement, Basel 1995, S. 53-59


Krise in Afrika – Krise auch der Demokratisierungsbemühungen?


Die bedeutsamen weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre, die Umkehr zur globalen Entspannung, aber auch die Niederlage des Sozialismus in der Welt und damit der Verlust des nichtkapitalistischen Vorbilds für nicht unbedeutende politische Kräfte in Afrika, Asien und Lateinamerika generell und für zahlreiche Entwicklungsländer in diesen Regionen hatten zweifelsohne ihre Auswirkungen auch auf die Dritte Welt insgesamt. Dabei waren afrikanische, asiatisch-pazifi­sche und lateinamerikanische Staaten nicht nur auch Objekt dieser Umwäl­zungen, sondern nicht selten selbst zumindest partieller Impulsgeber.

In diesen Prozeß muß auch das Phänomen eines zunehmenden Ringens um die Durchsetzung demokratischer Ideale in der Dritten Welt eingeordnet werden. Die augenscheinlich verstärkte Hinwendung in derzeit weitaus mehr als 50 Entwicklungsländern zu mehr bzw. überhaupt zu Demokratie stellt offenbar eine mehr oder weniger nahezu als objektiv zu bezeichnende Tendenz in der Dritten Welt der neunziger Jahre dar. Ein Prozeß der Demokratisierung, von anderen als Liberalisierung bezeichnet, gerichtet auf die Gewährleistung demokratischer Grundprinzipien in Kombination mit der Menschenrechtsproblematik. deren Negierung heute durch nichts - auch nicht durch "Unterentwicklung" - gerecht­fertigt werden kann, hat im Prinzip alle Regionen der Dritten Welt erfaßt.

Dabei befinden sich die verschiedenen Staaten auf unterschiedlichen Stufen des Demokratisierungsprozesses. und zwar sowohl in quantitativer als auch in quali­tativer Hinsicht. In quantitativer Hinsicht bezieht sich diese Differenzierung sowohl auf die unterschiedliche Anreicherung des Prozesses, auf die Intensität der Forderungen, die Breite der Bewegung, den Grad des Ingangkommens der Bevölkerung bzw. bestimmter politischer und sozialer Gruppen und Schichten. Die Differenzierung in qualitativer Hinsicht meint die unterschiedlichen Stufen dieses Prozesses, die Ausübung eines effektiven Drucks auf die Herrschenden, die meßbare Einflußnahme auf das tatsächliche gesellschaftliche Geschehen bis hin zur Erlangung von ausschlaggebenden strategischen Positionen, aber auch den Grad der Demokratiewilligkeit und den Grad der Demokra­tiefähigkeit der "neuen Kräfte".

Im subsaharischen Afrika setzte dieser Demokratisierungsprozeß in den Jahren etwa seit 1990 besonders rasant ein, so daß die Medien den Begriff der "Afrostroika" prägten. Dennoch muß entgegen allen Auffassungen, die diesen Prozeß nur auf das subsaharische Afrika eingrenzen, hervorgehoben werden, daß er auch in den anderen Regionen der Dritten Welt in Gang gekommen ist: verhalten und vielfach gebremst in verschiedenen arabischen Staaten; zuneh­mend im asiatisch-pazifischen Raum; unaufhaltsam auch in Lateinamerika. Das Konferenzthema bringt es mit sich, daß auf die Spezifika dieser regionalen Pro­zesse an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann.

Es scheint ein Spezifikum des subsaharisch-afrikanischen Raumes zu sein, daß nationale Prozesse zumindest zu Beginn der 90er Jahre in gewissem Maße re­gional orientiert und begleitet wurden. Diese Auffassung basiert auf der Analyse einer Reihe von grundlegenden Dokumenten, z. B. des Reformprogramms der ECA "African Alternative Framework to Structural Adjustment Programmes for Socio-Economic Recovery and Transformation" aus dem Jahr 1989 oder der von einer internationalen Konferenz im Februar 1990 in Arusha verabschiedeten "African Charter for Popular Participation in Development and Transformation", die im Juli des gleichen Jahres faktisch von der 26. OAU-Gipfelkonferenz bestä­tigt wurde. Das ECA-Dokument gelangt zu der Schlußfolgerung, daß für die Umsetzung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsprogramme die "volle Demokratisierung aller Aspekte und Bereiche des ökonomischen und so­zialen Wirkens in jeder Phase" erforderlich ist (S. III) und es im Hinblick auf das politische System zu "einem weitreichenden Wandel in der Demokratisie­rung der Gesellschaft" kommen muß (S. 15). Die Arusha-Charta rückt bewußt die Rolle der Menschen, des Volkes in den Vordergrund und hebt die Notwen­digkeit der demokratischen Partizipation von unten hervor. Sie spricht von einer neuen Ära der Demokratie auf dem Kontinent, von der Demokratisierung der Entwicklungsprozesse in allen afrikanischen Ländern, vom Handeln der Bevöl­kerungen, aber auch der Staaten und von einer Entwicklung des politischen Systems, die Demokratie und uneingeschränkte Teilnahme aller Sektoren der Gesellschaften erlaubt. Hinsichtlich der Strukturen, der Politiken, der Programme, die den Interessen aller dienen sollen, werden konkrete Empfehlungen gegeben. Auf zahlreichen anderen afrikanischen Konferenzen wurde über Erfah­rungen mit Mehrparteiensystemen, über die Rolle der Opposition oder über den Zusammenhang von Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung heftig debat­tiert.

In der Öffentlichkeit unserer Länder einschließlich unserer Bildungsein­richtungen werden diese grundlegenden Entwicklungserscheinungen in den afrikanischen Staaten nach wie vor nur in relativ geringem Maß zur Kenntnis genommen. Sie stehen für den "normalen Bürger" nicht generell im Blickpunkt seines Interesses, das im wesentlichen in erster Linie "Einzelblitzlichter" reflek­tiere, z. B. das Scheitern der Demokratie-Bemühungen in Rwanda. In der Presse und vielfach sogar in wissenschaftlichen Veröffentlichungen tauchen hier und da in letzter Zeit - neben fruchtbaren und konstruktiven Diskussionen - auch ex­treme Auffassungen auf. Da behaupten die einen, Demokratie sei in afrikani­schen Staaten "vergebliche Liebesmühe". Andere sprechen davon, sie sei in die­sen Staaten "überhaupt kein Problem, da weltweit von universeller Gültigkeit". Beide Tendenzen erweisen sich gegenwärtig immer mehr als absolut gegen­standslos und falsch. Solche Bewertungen werden arrogant "von oben herab" getroffen, obwohl der Nicht-Erfolg oft gerade von uns, also vom Norden, ver­schuldet wird. Deshalb sei eine alte Weisheit erneut konstatiert, nämlich daß alle bisherigen europäisch determinierten "Vorgaben", alle dem Demokratiever­ständnis des europäisch-nordamerikanischen Kulturkreises entsprechenden Ent­wicklungskonzepte oder Demokratiemodelle - ob westlicher oder in der Ver­gangenheit auch östlicher Provenienz - wenig positive Resultate zeigten. Da Demokratie in keinem Falle das Produkt einer politischen Laborgeburt westli­cher Entwicklungshelfer sein kann, sondern vielmehr Ergebnis eines den histori­schen und nationalen Besonderheiten Rechnung tragenden Prozesses in jedem einzelnen afrikanischen Entwicklungsland, der durchaus internationale Erfah­rungen berücksichtigen sollte, reduziert sich die Rolle des Nordens dabei aller­höchstens auf die eines Ratgebers, eines Erfahrungsvermittlers und Dialog­helfers ohne jegliches Recht auf Druckausübung und ohne die Legitimation eines "Demokratie-Oberlehrers mit Know-how-Monopol". Das in Großbritan­nien bewährte, vielen afrikanischen Entwicklungsländern übergestülpte West­minster-Modell führt dort nicht selten zu erheblichen Mängeln, ohne daß bisher bessere direkte Alternativen in der Dritten Welt sichtbar wurden.

Zahlreiche mißglückte Experimente zeigen heute, daß liberale Demokratie westlichen Verständnisses an eine spezifische westliche politische Kultur ge­bunden ist, die nicht schematisch übertragbar ist. Aber Wurzeln demokratischen Verhaltens gibt es offensichtlich auch in Ländern der Dritten Welt und damit auch in afrikanischen Staaten, unter welcher Bezeichnung auch immer. Neben den viel beschworenen westlichen Wertvorstellungen müssen vor allem eigene Traditionen und Auffassungen, Modelle und Begriffe bis hin zum afrikanischen "Palaver unter dem Baum" Platz haben, die partizipative Elemente enthal­ten und die es u. U. weiter zu entwickeln gilt, selbst wenn sie nicht den Kriterien einer Demokratie westlichen Zuschnitts entsprechen. Hinzu kommt die Erfahrung, daß über Dorfgemeinden, lokale Selbstverwal­tungsorgane, Vereine, Gewerkschaften etc. Demokratie sehr wohl an der Basis erlernt werden kann. Sicher wäre es auch ein Fehler, die liberale Demokratie als westlich und deshalb neokolonialistisch abzutun. Viele Fragen harren diesbezüg­lich noch einer theoretischen Untersuchung. Eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit der Demokratie in afrikanischen Ländern muß letztendlich in diesen selbst gefunden werden. Diese Problematik tangiert auch die Debatten über Konditionierung und Kriterien unserer sogenannten Entwick­lungshilfe.

Was nunmehr die Resultate der mehrjährigen Bemühungen in afrikanischen Staaten betrifft, so zeigt jeder Versuch eines Fazits des Demokratisierungspro­zesses in Afrika und in der übrigen Dritten Welt - aus Zeitgründen kann ver­ständlicherweise an dieser Stelle nicht auf die zahlreichen nationalen Beispiele einzelner afrikanischer Länder eingegangen werden -, daß ermutigenden Ent­wicklungen und positiven Erfahrungen nahezu ebenso viele Rückschläge gegen­überstehen. Heißt das, daß die von uns auf dieser Konferenz behandelte allge­meine Krise in Afrika bereits auch eine Krise der Demokratisierungsbe­mühungen, der jungen Demokratie ist? Jeder gewaltlose Umbruch läuft ständig Gefahr, gewaltsam rückgängig gemacht zu werden. Tribale und religiöse Zwistigkeiten erschweren vielfach ein kontinuierliches Vorankommen, zersplit­tern nicht selten den notwendigen Zusammenhalt oppositioneller demokratischer Kräfte. Ungeahnte Komplikationen nach einem scheinbar gesicherten Sieg der Kräfte der Demokratie verhindern oftmals die Analyse und Aufarbeitung von Fehlentwicklungen und deren Ursachen. Eine völlig ungebremste Entwicklung der Parteienlandschaft konfrontiert den Bürger und potentiellen Wähler in eini­gen Staaten mit einer unüberschaubaren Anzahl von Parteien ohne programmatische Abgrenzung (z.B. in Zaire fast 100 Parteien». Unübersehbar sind die tragi­schen Erscheinungen eines Putsches der Armee ohne Machtübernahme im Kongo, eines international tolerierten brutalen Coup in Togo oder des Ein­greifens der Streitkräfte in einen laufenden Wahlvorgang in Algerien und ähnli­che Entwicklungen. In Angola führten international als demokratisch akzeptierte Wahlen bekanntlich dennoch zum Bürgerkrieg ohne einschneidende internatio­nale Reaktionen.

Auf der Haben-Seite stehen aber die Einführung eines demokratisch inspirierten Mehrparteiensystems in fast 40 afrikanischen Staaten, der friedliche Macht­wechsel im Ergebnis von Wahlen in Ländern wie Benin, Sao Tome und Principe oder den Kapverden, der bisher erfolgreiche demokratische Weg in Namibia und Südafrika, die Ausarbeitung zahlreicher Verfassungen und die Durchfüh­rung von Referenden, Demokratisierungsschritte in Gewerkschaften oder das in vielen Ländern recht positive Wirken der Kirchen in diesem Pro­zeß.

Keineswegs vergessen werden darf, daß es auf diesem schwierigen Weg kaum verwertbare Erfahrungen unter Bedingungen der Unterentwicklung und der Ab­hängigkeit gibt. Ständig besteht die Gefahr der Regenerierung "alter", undemo­kratischer Kräfte, der Entartung gestern noch aktiver Vorkämpfer der Demokra­tie, des Mißbrauchs von Wahlen zum Zwecke der Kaschierung pseudodemokra­tischer Verhältnisse, wie es die MOBUTOs, die BONGOs und die MARCOS stets getan haben, zumeist leider bei stillschweigender Duldung der westlichen Partner. Ein solch fundamentaler Umgestaltungsprozeß ohne Komplikationen und Rückschläge ist historisch einfach nicht vorstellbar. Sein Auf und Ab ist deshalb nicht Ausdruck einer aus dem "normalen" Rahmen fallenden besonderen Krisenhaftigkeit afrikanischer Staaten, wenngleich die generelle Krise des Kontinents naturgemäß als maßgeblicher Einflußfaktor spürbar wirkt.

Die gegenwärtig gerade erst eingeleitete Phase des Prozesses der Demokratisie­rung in afrikanischen Ländern unter den neuen Bedingungen in der Welt von heute schafft offensichtlich erste Voraussetzungen für Veränderungen von histo­rischer Tragweite, für die die heutigen Industriestaaten viele Jahrzehnte unter völlig anders gearteten Bedingungen benötigt haben. Bei aller objektiven Be­grenztheit der derzeitigen Möglichkeiten, besonders angesichts der komplizier­ten inneren und äußeren Rahmenbedingungen, besitzt dieser Prozeß dennoch eine echte Chance für die Millionen Menschen in Afrika.

Wie sieht es aber mit der internationalen "Begleitung" dieses Prozesses in Afrika im allgemeinen und in jedem einzelnen afrikanischen Staat im besonderen aus? Haben wir es nicht vielfach nahezu mit einer Art von "Krisenförderung" zu tun!?

  1. Meiner Auffassung nach gibt es keine sichtbare, meßbare Unterstützung in beachtenswerter Größenordnung, ehe "das Kind im Brunnen liegt". Hat es viel­leicht damit zu tun, daß es mit echter Demokratie in einigen westlichen Staaten selbst nicht zum Besten bestellt ist? Natürlich sollen punktuelle Ansätze durch einzelne Institutionen aus einzelnen Ländern in einzelnen Staaten Afrikas nicht negiert werden. Das trifft tendenziell auch auf die good governance-Be­mühungen der deutschen Bundesregierung, der Weltbank und anderer Einrich­tungen zu, wenngleich auch hier auf die "Rezeptgefahr" erneut hingewiesen werden muß.
  2. In zahlreichen Fällen muß man heute von einer Strangulierung des angelaufe­nen Demokratisierungsprozesses in afrikanischen Ländern von außen sprechen. Kollege Professor TRAPPE hat in seinem überaus interessanten Referat auf solche Erscheinungen wie Rohstoffpreisverfall, Überschuldung, unangemes­sene Sanierungsauflagen hingewiesen. Zu verantworten ist diese Politik in erster Linie durch die Industriestaaten des "Nord-Westens". Die gefährlichen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen engen den ökonomischen, aber auch den politischen (und damit den Demokratie-) Spielraum erheblich ein. In vielen Entwicklungsländern Afrikas werden Demo­kratisierungsbemühungen nicht zuletzt wegen des entstehenden sozialen Sprengstoffs vielfach hinfällig oder überhaupt unmöglich gemacht, wird der in Gang gekommene Prozeß durch die internationale ökonomische Strangulierung vielfach unterlaufen und partiell oder völlig in Frage gestellt.
  3. Das zwar zunehmende politisch-verbale Zur-Kenntnis-Nehmen und Beschäf­tigen mit dieser Situation in bestimmten internationalen Grundsatzdebatten reicht dennoch keineswegs aus. Tendenzielle Bemühungen sollen in ihrer Be­deutung aber keineswegs herabgemindert werden. So kann man in der der 49. UN-Vollversammlung durch den Generalsekretär unterbreiteten "Agenda für Entwicklung" durchaus das Bemühen um einen konzeptionellen Ansatz bestäti­gen. BOUTHROS-GHALl hebt hervor, daß Entwicklung ohne eine demokratische Partizipation am gesellschaftlichen Wandlungsprozeß zerbrechlich und ständig gefährdet bleibt. Langfristig seien Demokratie und Beachtung der Menschenrechte der einzige Weg, um Konflikte zu vermeiden und Interessen zu harmonisieren. Hierher gehören - bei aller Umstrinenheit - auch die durch das UNDP in seinen Human Development Reports der Jahre 1990 und 1991 unter­breiteten methodischen Instrumentarien Human Development Index (HDI) und Human Freedom Index (HH), mit deren Hilfe der Versuch unternommen wird, den Zustand von entwicklungsrelevanten Dimensionen zu "messen", darunter die Faktoren politische Rechte, bürgerliche Freiheiten, Menschenrechte, Partizi­pation, Status der Frau u. A.

Der Prozeß der Demokratisierung in Afrika (und in Entwicklungsländern ande­rer Regionen), der - wie zahlreiche Fehlentwicklungen zeigen - noch nicht iden­tisch mit Demokratie ist, existiert trotz aller Rückschläge und Behinderungen!  Er ist, wie das Beispiel Südafrika unter spezifischen Bedingungen zeigt, partiell kraftvoller, als wir das vermuten. Richtig eingebettet in die allgemeinen Kri­senerscheinungen des afrikanischen Kontinents unterstreicht er die notwendige Schlußfolgerung, daß Krisenmanagementbeiträge mit dem Abbau der äußeren ökonomischen Strangulierung der afrikanischen Länder beginnen müssen. An­dererseits müssen Demokratisierungsanstrengungen (unbeeinflußt, aller­höchstens "erbetenpositiv" unterstützt bzw. begleitet!) sowohl als Instrument als auch zugleich als Ziel von Krisenmanagement angesehen werden. Eine generelle Schlußfolgerung, deren effektive Umsetzung noch überdurchschnittlich großer nationaler afrikanischer und internationaler Anstrengungen bedarf!