Prof. Dr. habil. Walter Hundt


Referat auf dem 13. Militärpolitischen Symposium der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Potsdam am 15.11.2011.

Nachdruck in: Lothar Schröter (Hrsg.), Zukunft für Afghanistan? Politik und Militär in der Konfliktbewältigung am Hindukusch, Schkeuditzer Buchverlag 2012, S. 53-65


Helfen immer mehr sogenannte „neue Strategien“ für  Afghanistan?


Auf Veranstaltungen zu Afghanistan erhebt sich oftmals die Forderung, unbedingt etwas zu den „neuen Strategien“ der USA und der deutschen Bundesregierung für das zentralasiatische Land zu sagen. Aber das kann man – bei einem gewissen Realismus – schnell beenden. Welche Strategien sollen denn da gemeint sei? Und wenn man eine findet, die es halbwegs wert ist, so genannt zu werden: Was ist neu daran? Im Verlaufe der Darlegungen wird darauf noch zurückzukommen sein.


Zuvor ist es unumgänglich, auf bestimmte Grundsatzgedanken und Hintergründe hinzuweisen, weil diese inzwischen stark vernachlässigt oder vielfach sogar vergessen werden. Das Resultat von letzterem sind Fehlgriffe in der Bewertung der aktuellen Situation, mitunter auch mangelndes Verständnis für bestimmte Fakten und Prozesse. Deshalb beginne ich nicht mit Barack Hussein Obama, General Stanley A. McChrystal und General David H. Petraeus, nicht mit Angela Merkel, Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Karl Ernst Thomas de Maizière oder Leuten wie Oberst Georg Klein, sondern für wenige Augenblicke mit Alexander dem Großen. Unter den „Befehlsgebern“ für  von Machtgelüsten und territorial-strategisch-ökonomischem Hunger getragenen Invasionen in das zentralasiatische Territorium, das wir heute Afghanistan nennen, also unter Alexander dem Großen, verschiedenen russischen Zaren, dem britischen Premierminister Henry John Temple, 3. Viscount Palmerston Mitte des 19. Jahrhunderts, Leonid I. Breshnew, Generalsekretär unseligen Angedenkens, George W. Bush jr. und in seinem Gefolge Gerhard Schröder mit seiner „uneingeschränkten, bedingungslosen Gefolgschaft“ – unter allen war Alexander offensichtlich der strategisch Klügste, der im Vorbeigehen eine afghanische Fürstentochter heiratete und auf der östlichen Seite das Land wieder verließ. Das strategisch Unvernünftigste war offensichtlich jene Aussage des Chefs der Bundestagsfraktion einer großen Volkspartei, dass die Freiheit und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland am Hindukusch verteidigt würden. Auf die Frage eines Zuhörers bei einem Vortrag, den der Autor vor einiger Zeit an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin hielt, wie groß denn das militärische Engagement der DDR an der Seite der Sowjetunion in Afghanistan gewesen sei, konnte der Referent Gott sei Dank und leichten Herzens behaupten, dass die DDR bekanntlich nicht am Hindukusch verteidigt wurde. Aber zurück zum Thema direkt.


  1.  Kurze Bemerkungen zur wissenschaftlich-theoretischen Definition von Strategie und zu politischen und militärischen

     Anforderungen an dieselbe


Die für das Thema gewählte Frage beinhaltet quasi die Antwort – vielleicht disqualifiziert das den Autor als Wissenschaftler!? Und vielleicht erhebt sich bei den anwesenden Herren Generalen a.D., die den Referenten seit langem – z.T. aus gemeinsamer Arbeit – kennen, während der folgenden Ausführungen die zweifelnde Frage „Hat der denn alles vergessen, was er im Rahmen seiner militärisch-akademischen Ausbildung einmal gelernt hat!?“ Keine Angst: Natürlich gelten angeeignete Erkenntnisse, aber im Zusammenhang mit Afghanistan ist auch die persönliche Meinung herausgefordert. Sie hat sich im Verlaufe von fünf Aufenthalten in der Region Afghanistan, Pakistan und Indien – auf beiden Seiten der jeweiligen Front – herausgebildet, sicher mittlerweile ein wenig abgeschliffen. Außerdem schlagen unmittelbare Erfahrungen aus den letzten zehn bis zwölf Jahren zu Buche, erworben in ungezählten Stunden bei der Beratung, Erörterung und Analyse in Gremien verschiedener Bundestags-parteien. Schließlich verfehlen auch die relativ engen Kontakte zur afghanischen Community aus Ost- und Westdeutschland und z.T. auch zu heute noch direkt in ihrem Heimatland lebenden Afghanen ihre Wirkung nicht.

 

Wir finden heute kaum noch einen einheitlichen Sprachgebrauch des Terminus Strategie, erst recht nicht auf Veranstaltungen, an denen aktive Offiziere und ehemalige Militärs unterschiedlicher Armeen teilnehmen. Das hat sich verstärkt, seitdem sich die Politik dieses Terminus bemächtigt hat. Carl von Clausewitz meinte, wenn er von Strategie sprach, die Theorie und die Praxis des Einsatzes von Streitkräften im Krieg, in dessen Feldzügen und Operationen sowie die Vorbereitung eines Landes auf die Kriegführung. Es ging dabei um die effiziente Anwendung militärischer Gewalt, um die militärischen Mittel zur Erreichung der politischen Ziele. Dabei dachte er auch an die Strategiefähigkeit, also an die Fähigkeit eines Akteurs, Gesamtkonzepte sowie langfristige Ziele und Teilziele zu entwickeln bzw. anzuwenden. Untrennbar davon ging es bei Clausewitz um Problemdiagnose und Handlungsanweisungen. Strategie muss also auch etwas von Langfristigkeit, von Wohlüberlegtheit und Analyserealität einschließen. Das meint auch die  Bereitschaft, in Kauf zu nehmen, sich in bestimmten Fällen korrigieren zu müssen. Strategie ist nach der „reinen Lehre“ abhängig von den politischen Zielen des Staates, ist ihnen untergeordnet. Das setzt die Notwendig-keit allseitiger Analysen des eigenen vergangenen Wirkens und des vermutlichen gegnerischen Handelns voraus und erstreckt sich auch auf die Organisierung des Zusammenwirkens eventueller Koalitionspartner.


Mit all diesen klassischen Grundthesen hat der gegenwärtige Gebrauch des terminus militaris „Strategie“ nur noch sehr wenig zu tun. Man sollte keine Art genereller Strategiefeindlichkeit aufbauen, aber unter den Bedingungen unserer heutigen Thematik ist der Begriff (mindestens ausnahmsweise) „niedrig zu hängen“. Das erfordert allein die derzeitige Praxis des Umgangs mit dem Strategiebegriff durch Merkel, von und zu Guttenberg und andere, wobei die Obamas, die Gates’, die McCrystals und die Petraeus’ beim Finden immer neuer „Strategien“ nicht ausgeschlossen sind. Nach der Durchsicht ungezählter Reden, Verlautbarungen, Dokumente und anderer Materialien in Vorbereitung auf das heutige Symposium ist zu konstatieren: Eine sich ständig vergrößernde Flut sogenannter „Strategien“ im Afghanistankrieg rieselt über die Menschheit herab, deren Kern mit Clausewitz nichts mehr oder nahezu nichts mehr zu tun hat.


An dieser Stelle eine etwas abschweifende Überlegung: Wie dachte eigentlich die andere Seite, also der afghanische Widerstand, zu den verschiedensten Zeiten der Abwehr ausländischer Truppen  über die Notwendigkeit einer Strategie oder einer Vielzahl von „Strategiechen“? Zwei der hier Referierenden, nämlich Botschafter a.D. Dr. Karl Fischer und der Autor, hatten vor geraumer Zeit die Gelegenheit, in sehr komplizierter Situation mit der gesamten Führung des seinerzeitigen afghanischen Widerstands stundenlang unter dem Dach der iranischen Botschaft in Islamabad zu verweilen, Fragen zu stellen, solche zu beantworten, zu diskutieren. Also mit Gulbuddin Hekmatyàr, Sayed Ishaq Gailani, Usàma ibn Muhammad ibn Awad ibn Làdin (Osama bin Laden) und anderen, begleitet von der bis an die Zähne bewaffneten zweiten Garnitur. Möglich geworden war dies dank Allahs Fügung und einer Weisung des damals für Derartiges zuständigen Stellvertretenden DDR-Außenministers Ewald Moldt zur Aufnahme von Gesprächskontakten mit Mudschaheddin, verbunden mit der Ermahnung „Dein Institut hat davon nichts zu erfahren!“


Das Ergebnis: Niemand von den afghanischen Führern sprach damals auch nur ein einziges Mal von Strategien! Wie der Krieg ausging, ist bekannt. Dabei weiß man natürlich um die wirkungsvolle Unterstützung, die unterschiedliche auswärtige Mächte den damaligen Aufständischen erwiesen.


  1. Eine Flut so genannter Strategien im Afghanistankrieg


Die nachfolgende, nicht zeitlich geordnete Auflistung so genannter Strategien ist keinem entsprechendem Systematiklehrbuch entnommen. Sie ist sicher auch nicht komplett, und ihre Reihung folgt keinem Schema. US-amerikanische,  ISAF- und speziell bundesdeutsche „Strategien“ werden gleichbehandelt nebeneinandergestellt, wobei nur in sehr wenigen Fällen klar festzustellen ist, wo, wann und von wem die jeweilige „Strategie“ ausgedacht wurde. Die kaum erwähnte Interessenbasiertheit derselben ist für Deutschland sämtlich in den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) vom 26. November 1992, 21. Mai 2003 bzw. 18. Mai 2011, im Militärweißbuch 2006 des BMVg sowie in den Materialien der 41. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 10. März 2008 in Berlin und der entsprechenden Nachfolgeveranstaltung am 22. November 2010 in Dresden nachzulesen. Ihre Hervorhebung wurde bekanntlich selbst einem Bundespräsidenten zum Verhängnis.


Oft betonte Strategiewechsel sollen nicht selten lediglich vertuschen, dass es vorher gar keine einschlägige Strategie gegeben hat. Die Anfangsstrategie zielte auf die Zerschlagung der in der Regel als Terrornetzwerk titulierten Gruppierung al-Qaida sowie auf die Verdrängung und schließliche Vernichtung der bis Herbst 2001 in Afghanistan herrschenden radikal-islamischen Taliban. Sie führte vorübergehend zu zeitlich begrenzten Erfolgen, während die damit verbundenen politischen Ziele scheiterten. Ein Beispiel für eine relativ globale bzw. allumfassende Strategie, die auch heute noch thematisch gültig sein könnte, wurde 2007 für Afghanistan verkündet, und zwar unter der Losung „Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau und Entwicklung. Kein Wiederaufbau und keine Entwicklung ohne Sicherheit“. Aber: Sie wurde nicht einmal in der Generaltendenz erfüllt, wobei sie eigentlich wegen ihrer außerordentlich allgemeinen Formulierung für alle Ewigkeit gültig ist. Ähnlich verhielt es sich mit der „Strategy clear, hold and build“, sinngemäß zu übersetzen mit „Taliban vertreiben, Gebiet halten, Wiederaufbau beginnen“. Die Counter Insurgency Strategy wiederum zielte auf Konflikttransformation durch Aufstandsbekämpfung und Niederschlagung der Gewalt mit Hilfe einer Kombination von militärischen, technologischen und diplomatischen Mitteln und sollte vor allem die Schonung der Zivilbevölkerung sichern. Dann, am 23. November 2010, proklamierte General Petraeus während eines Blitzbesuches im Berliner Reichstag auf einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages die „Neue Anaconda-Strategie“. Sie meint das Zerquetschen und das Töten des Gegners, und zwar eines Gegners, der nach seiner Verlautbarung eigentlich in Gespräche einbezogen werden soll!


Ungehemmt tobten sich die amerikanisch-deutschen „Strategieproduzenten“ auf rein militärischem Gebiet aus. Eine der raffiniertesten Varianten ist - entgegen einer Weisung des afghanischen Präsidenten – die Strategie der Private Military Companies (PMC). Dabei handelt es sich um schon im Irak in großer Stärke eingesetzte, scheinbar zivile, tatsächlich aber vollwertig ausgebildete und ausgerüstete Privatarmeen, deren Stärke zeitweilig die der US-amerikanischen Truppen übertraf bzw. übertrifft. Dieses Übertreffen bezieht sich auch auf deren Brutalität im Vorgehen. Die PMC sind in der Regel bei der offiziellen Nennung der Truppenstärke nicht einbegriffen. Diese hochdotierten Militärunternehmen jenseits der regulären Streitkräfte entziehen sich jeglicher öffentlicher Kontrolle, agieren im juristisch-völkerrechtlichen Niemandsland und haben ein „natürliches“ Interesse an der Privatisierung der Kriege und daran, sie in die Länge zu ziehen. Die ihnen anzulastenden zivilen Opfer werden in der  Regel verschwiegen oder aber stark minimiert und in jedem Falle zu Taliban erklärt.


Eine spezifische deutsche Strategie sollte militärische Erfolge durch die Beschaffung und den Einsatz schwerer Waffen garantieren (Panzerhaubitzen 2000 [PzH 2000], neue Typen von Schützen- und Transportpanzerwagen, schwere gepanzerte Kampfhubschrauber). Ein strategisches Hin und Her gab es um den angeblich dringenden Einsatz von sechs speziell ausgerüsteten Aufklärungsflugzeugen TORNADO RECCE des Aufklärungsgeschwaders 51 und der NATO-AWACS-Flugzeuge E-3 A SENTRY. Sie waren angeblich im Juli 2009 über Nacht unentbehrlich geworden. Das stellte sich wenig später als politische und militärisch-strategische Lüge mit hohen Kosten und geringem operativen Erfolg heraus, spätestens als die TORNADOS den Einsatz, der im Frühjahr 2007 begonnen hatte, im November 2010 stillschweigend beendeten, und die AWACS-Maschinen  mit quasi zweijähriger Verspätung erst kürzlich in Afghanistan eingriffen. Bezeichnend ist ein überliefertes Gespräch eines Potsdamer Journalisten mit einem der TORNADO-Piloten in Mazàr-i Scharif, der auf die Frage, was die Staffel hier noch mache, antwortete: „Gute Frage. Das wissen wir auch nicht so richtig.“ Seltsamerweise kam es während der heftigen Debatten über diese Luftwaffeneinsätze und ihre angebliche strategische Unersetzbarkeit vor Ort immer wieder zu sicher nicht zufälligen Presse- und anderen Meldungen über angebliche seinerzeitige Einsätze von DDR-Kampfhubschrauberpiloten und anderen Kampfeinheiten in Afghanistan – ein absolut gehaltloses Propagandagetöse.


In der letzten Zeit machten die USA mit ihrer Strategy of Night Raids, nach Außenministerin Hillary Diane R. Clinton eine „Schlüsselkomponente für den Erfolg“, von sich reden: Nächtliche Überfalloperationen der Special Forces (Task Force 373) – oft gemeinsam mit deutschen Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) und der besonderen Einheit Task Force (TF) 47 – zur systematischen Reduzierung von potenziellen Führungskräften der Aufständischen. Das deutsche Gegenstück zur Strategy of Night Raids ist nach Eingeständnissen seitens des KSK die Strategie des gezielten Tötens und das Mitwirken an Joint Priority Effects Lists (Todeslisten). Laut BMVg sei aber gerade das doch verboten.   


Eine so genannte Pro-Pakistan-Strategie der USA  führt dazu, dass die destruktiven Aktivitäten  Islamabads in der Region geduldet und ausgenutzt werden. Andererseits geht Washington im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet brutal und völkerrechtswidrig ohne pakistanische Zustimmung vor, so u. a. mit Kampfdrohnen.


Der Aufbau nationaler Streitkräfte Afghanistans, auf den große Anstrengungen verwandt worden sind (bis 2011 sollten z.B. 170.000 Soldaten durch die BRD ausgebildet werden), kann alles in allem als weitestgehend gescheiterte Strategie eingeschätzt werden. Die Ausbildung einsatzfähiger Polizeikräfte (134.000 Polizisten bis 2014 durch Deutschland) - ständiger Streitapfel zwischen den Washington und Berlin - verzeichnet bei weitem nicht die gewünschten Ergebnisse. In den Sternen steht, was aus jener Strategie werden soll, die die ausländischen Kampftruppen allmählich zu Beratern, Ausbildern und Unterstützern der afghanischen Nationalarmee und der afghanischen Polizei reduzieren soll. Das gleiche Schicksal deutet sich bei der Strategie der permanenten Afghanisierung aller Prozesse an.


Die Strategie der militärisch-zivilen bzw. zivil-militärischen Kooperation des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Dirk Niebel, die Tätigkeit und Projekte der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen an den Einsatz der Bundeswehr bindet, mit ihr und der Polizei  „verzahnt“ und die deren Finanzierung von der Bereitschaft zu dieser Zusammenarbeit abhängig macht, bringt deutsche Wiederaufbauhelfer in das Fadenkreuz der Kampfhandlungen. Ihre Einsatzorte dürfen nur noch im Handlungsgebiet der Bundeswehr liegen, da sie ansonsten laut Außenminister Guido Westerwelle nicht existenzfähig seien. Gegen den Plan, Entwicklungshelfer als „weiche Komponente militärischer Konzeptionen“ einzusetzen, gibt es massiven Protest. Auch die sogenannte Wiederaufbaustrategie der Bundesregierung hat neben einigen Schritten nach vorn große Probleme. Das so bezeichnete Partnering, also alles in afghanischer „Begleitung“ zu unternehmen, und die groß angekündigte Strategie vertrauensbildender Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Verhinderung weiterer Kollateralschäden sind enttäuschend. Ähnliche Erfahrungen sind bei den erkennbaren Ansätzen der auf den Abzug 2014 gerichteten Strategien (Transitionsstrategie, „Transformationsstrategie 2014“, „Exit 2014“) zu befürchten, die unverständlicherweise offenbar zunehmend an riesige Rüstungsbestellungen gekoppelt werden sollen.


Besonders zwiespältig und schwer verständlich sind jene Strategien, die auf die Kombination der Jagd gegen die Aufständischen unterschiedlicher Couleur und gleichzeitig auf hochgeheime Kontakte mit ihnen gerichtet sind. Dazu gehört auch ein manipuliertes Wechselspiel zwischen Verhaftungen und Freilassungen. Die USA-Streitkräfte setzen im Rahmen einer Anti-Taliban-Milizen-Strategie seit 2008 Hubschraubertrupps ein, die sowohl Killerkommandos transportieren als auch Beauftragte mit unvorstellbaren Bestechungsgeldsummen an Bord haben. Ungeheuere Mengen an Schutzgeldern fließen seitens der Truppen und der PMC der USA in die Taschen der Taliban, damit diese den amerikanischen Truppennachschub nicht angreifen, ihn mithin sichern.


Auch die Bundesregierung verfolgt seit einiger Zeit eine Strategie der bezahlten freiwilligen Entwaffnung, bei der sie in zahlreichen Fällen mit den Warlords, also den regionalen Kriegsherren, kooperiert. Persönliche Beobachtungen des Autors von „Entwaffnungen“ paschtunischer Mudschaheddin in den 80er Jahren beweisen die faktische Nichtrealisierbarkeit dessen. Bestechungsgelder werden – auf fünf Jahre geplant – auch im Rahmen einer sogenannten Reintegrationsstrategie gezahlt.


  1. Kritik der so genannten Strategien, ihrer Resultate und ihrer Auswirkungen auf dem Kriegsschauplatz und in Deutschland


Neben den in der Regel für den Insider recht eigenartig erscheinenden Bewertungen der bisherigen Ergebnisse aller Strategien en gros und en détail sticht in letzter Zeit in Bezug auf den Realitätsgehalt eine Einschätzung in gehörigem Maße ab: Das Protokoll des am 28. Oktober 2010 durchgeführten Symposiums des Bundesnachrichtendienstes (BND) zum Thema „AFPAK (Afghanistan, Pakistan – W.H.) – ein gordischer Knoten?“ geht unumwunden davon aus, dass


  1. die Aussage, dass die Sicherheit der Bundesrepublik am Hindukusch verteidigt wird, falsch ist; die Solidarität mit dem Bündnispartner USA nicht mehr als Motiv für das deutsche Engagement dienen kann;
  2. Deutschland keinerlei eigene Ressourcen- oder andere regionalpolitische Interessen in Afghanistan hat;
  3. das Haupthindernis für denkbare Gespräche bzw. Verhandlungen die Dämonisierung der Taliban und die brutale Verfolgungs- und Ausrottungspraxis ihnen gegenüber (besonders durch Truppen des Bündnispartners USA) ist;
  4. der richtige Moment zur Beendigung des Konflikts jetzt ist.


So etwa haben Linke schon argumentiert, als man noch versuchte, ihnen landesverratsähnliche Auffassungen oder ähnliches zu unterstellen!


Einige von der Tendenz her realistischere Thesen als gewohnt enthält auch der für den Bundestag bestimmte und am 13. Dezember 2010 veröffentlichte Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Lage in Afghanistan. Er gipfelt in der völlig zutreffenden Feststellung, dass der Konflikt nicht militärisch lösbar ist.


Die Kritik am Strategieunwesen richtet sich hauptsächlich gegen den großen Widerspruch zwischen öffentlicher Darstellung und Realität vor Ort. Man bekommt den Eindruck, dass der gesamte Feldzug eben keinerlei Gesamtstrategie hat, es stattdessen ein Wirrwarr von so genannten Einzelstrategien gibt. Dabei seien aber alle Strategien und alle Mandate angeblich alternativlos. Sämtliche Abzugsdaten ohne militärische Basierung erwecken den Verdacht der Täuschung der Wähler und der internationalen Öffentlichkeit. In jüngster Zeit fällt auf, dass der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Botschafter Michael Steiner, im Zusammenhang mit dem genannten deutschen Abzugsdatum – sich dezidiert wiederholend – hervorhebt, dass 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr auf den Hauptstraßen Afghanistans anzutreffen sein werden. Und wie ist es dann auf den Nebenstraßen und auf dem „flachen Lande“?


Der Strategieterminus wird permanent benutzt, um immer wieder Neues vorzutäuschen, ohne dass spürbar qualitative Fortschritte erreicht worden sind. Eine neue Strategie setzt voraus, dass die bisherige entweder erfolgreich umgesetzt wurde oder aber unter dem Druck von Misserfolgen abgebrochen werden musste. So genannte „neue Strategien“ verschleiern vielfach die Ausweglosigkeit und die Aussichtslosigkeit der jeweils vorangegangenen. Diese Scheintaktik ist verlogen, realitätskonträr, oftmals ahistorisch, illusionär und erfahrungsnegierend. Nur in seltenen Fällen vermag man Ansätze einer Balance zwischen militärischem, politischem und wirtschaftlichem Engagement auszumachen. Strategie erfordert Bilanzierung, Abrechnung und Einschätzung, was im Falle des Afghanistankonflikts aber gerade nicht erkennbar ist. Man hat den Eindruck, dass die Problemdiagnose im Clausewitzschen Sinne in der Regel unterschätzt wird sowie schwach und nicht ausreichend auf die afghanische Spezifik zugeschnitten ist. Man vermisst den Willen zur Aufrichtigkeit und zum Eingeständnis von Niederlagen und Verlusten. Risikoeinschätzungen der UNO-Mission wirken überhöht. Es erweist sich immer mehr, dass auch die lange geforderten schweren Waffen und die vorhandene modernste Technologie die akuten Probleme einer Lösung nicht wesentlich näher bringen, was offensichtlich strategisch unzureichend berücksichtigt wird.


Bei der Debatte über solche Fragen in einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Februar 2011 in Potsdam vertrat Bundeswehroberst a.D. Roland Kaestner vom Institut für strategische Zukunftsanalyse der Carl Friedrich von Weizsäcker Stiftung Hamburg einen Standpunkt, der von der afghanischen Realität widerlegt wird. Er bezeichnete Afghanistan als „ein totes Land, das für die USA völlig uninteressant“ sei. Fakt ist demgegenüber, dass sowohl die strategische Verortung Afghanistans, aber auch die von den USA bereits gegenüber den Taliban, als diese noch an der Macht waren, betriebenen Aktivitäten bezüglich der Erdgas- bzw. Erdölpipelines in der Nord-Süd- und in der West-Ost-Richtung sowie die durch sowjetische und andere Geologen in den 60er und 70er Jahren und danach entdeckten reichen Bodenschätze, besonders die riesigen Lithiumvorräte (Afghanistan – „Saudi-Arabien des Lithiums“), für die USA lukrativ sind, was das strategische Verhalten zwingend beeinflusst.


All die genannten Strategien vernachlässigen in starkem Maße auch solche Tatsachen wie



Keine Strategie kann erfolgreich sein, ohne diese und andere Problemkomplexe zu berücksichtigen. Grundwahrheiten und Grunderkenntnisse dürfen weder unterschätzt noch bewusst und absichtsgesteuert übersehen werden.


Im vorliegenden Fall der seit 2001 andauernden Präsenz der ausländischen Truppen in Afghanistan unter den Bedingungen eines sehr spezifischen Krieges hat das arrogante Negieren historischer Erfahrungen der Afghanen bei der Abwehr und Vernichtung von Invasoren in der Regel verheerende Folgen. Die Bundeswehr (und bis zum gewissen Grade die ISAF-Truppen insgesamt) haben bis jetzt keinerlei wirkungsvolle Strategie für den Erfolg der Operationen in Afghanistan. Und überhaupt keine, die dem geschundenen Lande und seiner Bevölkerung in absehbarer Zeit den Frieden bringt. Stattdessen sind immer mehr Menschen auf der Welt der Meinung, dass Deutschland sich – mit und ohne jene Vielzahl von Strategien – im Nachtrab der USA befindet und ihr Gehilfe bei der Umsetzung von deren gefährlichen Plänen ist. Die Sachlage im ISAF-Regionalkommando Nord in Mazàr-i Scharif, das unter deutschem Kommando steht, scheint ein eindeutiger Beweis dafür zu sein. Aus Misstrauen gegenüber verschiedenen Strategien und Maßnahmen der Bundeswehr verlegten die US-Amerikaner 5000 Soldaten in die Region. Sie operieren völlig selbständig. Informationen an den deutschen Kommandeur erfolgen nur in wenigen Fällen und das auch nur nach Beendigung eines Einsatzes. Eine wirkungsvolle Koordination mit den dem deutschen Kommando faktisch unterstellten US-amerikanischen Einheiten gibt es im Prinzip nicht. Auch die „Dienstgradangleichung“ des deutschen Befehlshabers – vom Brigadegeneral zum Generalmajor – änderte nichts an der Situation. In der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – einem der Think Tanks der Bundesregierung – vertreten renommierte Wissenschaftler wie Citha Maas, die sich regelmäßig und in kurzen Abständen in Afghanistan aufhalten, auch bei der Truppe, die Auffassung, dass die deutschen Einheiten angesichts dieser amerikanischen Konstellation überflüssig seien und abgezogen werden könnten. Die zunehmende Zahl getöteter und verwundeter Bundeswehrsoldaten und die rasant wachsende Zahl der Fälle von „Posttraumatischen Belastungsstörungen“ (PTBS) lässt immer mehr Bundesbürger die baldige Rückkehr der deutschen Truppen fordern.  


Abgeleitete Gedanken, die  zum Komplex „Umfassende Zukunfts- und Friedensstrategien“ führen und dazu gehören


Es erweist sich immer mehr als Fehler, dass der NATO das weitgehende Mandat für Afghanistan mit der „besonderen Rolle“ der USA uneingeschränkt übertragen wurde. Ein neues Mandat würde einer Lösung des Konflikts dienlich sein. Die USA haben unbestritten – von vielen leichtsinnig übersehen – echte und schwergewichtige geostrategische Interessen in der Region, in erster Linie in Afghanistan:

 

  1. die Reduzierung der islamistischen Bedrohung;
  2. eine Eindämmung Russlands;
  3. eine Einkreisung Chinas und Irans;
  4. die volle Erschließung des südasiatischen Wirtschaftsraumes mit Indien und Pakistan;
  5. ein für das Territorium Afghanistan seit langem entworfenes Pipelinesystem von Zentralasien an die Küsten des Indischen Ozeans;
  6. die festgestellten Riesenvorräte an Lithium und anderen Ressourcen.


Aus den USA ist eine für Afghanistan positive Lösung des Konflikts somit nicht zu erwarten. Wenn sie das Land nicht beherrschen können – was sich immer deutlicher erweist – , sollen es andere auch nicht. Das strategische Ziel der USA scheint darin zu bestehen, Afghanistan nicht – sprich nie – wieder zu verlassen. Alle Terminbekundungen sind taktische Täuschung. Ein Ausweg, der den USA derzeit vorzuschweben scheint, ist eine 40 Jahre währende, vertraglich gesicherte „strategische Partnerschaft“ mit Afghanistan und die sich daraus zwangsläufig ergebende entsprechende 40 Jahre andauernde Truppenstationierung. Dazu ist aber mehr oder weniger eine Zustimmung erforderlich, die von der Shura (einer Art Rat der Stammesführer) getragen wird. Dabei könnten in nicht allzu langer Zeit die riesigen Rüstungszuwächse der USA an eine unumstößliche finanzielle Grenze stoßen. Spezialisten, die das Land seit Jahrzehnten kennen und bereisen, teilen mit, dass sie gegenwärtig plötzlich mit stabilen Befestigungen der USA-Truppen konfrontiert sind, die bisher benutzte Verbindungsstraßen durch Überbauung blockieren und auch für afghanische Nutzer nicht mehr passierbar machen. Eventuell ein Schritt in die skizzierte Richtung?


Zu den verstärkt festzustellenden Folgen dieser Entwicklungen gehören in der Haltung der Afghanen u.a. folgende. Da ist erstens der Abbau der traditionellen Germanophilie. Früher waren in Kabul und darüber hinaus „deutsch“ und „gut“ Synonyme. Dazu konnte der Autor als ehemaliger Vizepräsident der Freundschaftsgesellschaft DDR – Afghanistan ganz spezifische Erfahrungen sammeln. Dies nutzend brachten in früheren Phasen des Krieges US-amerikanische Soldaten gelegentlich schwarz-rot-goldene Aufkleber an ihren Gefechtsfahrzeugen an. Auch wir trugen in den letzten Jahren des sowjetischen Aufenthalts stets „vorsichtshalber“ große Plastebeutel mit dem deutlichen schwarz-rot-goldenen DDR-Emblem und der Aufschrift „German Democratic Republic / Liga für Völkerfreundschaft“. Und da sind zum zweiten die Zweifel an der Ausgeprägtheit des demokratischen Systems in Deutschland, wenn viele sich in Afghanistan für die Menschen verheerend auswirkende Maßnahmen und Strategien auf parlamentarisch-demokratischem Wege möglich sind.


Derzeit wimmelt es nur so von ernst zu nehmenden und weniger ernst zu nehmenden Papieren, Konzeptionen, Deklarationen und anderen Verlautbarungen, die auf die Lösung der komplizierten Probleme um den Afghanistankrieg gerichtet sind. Nicht vergessen oder übersehen werden sollten neben den staatlichen bzw. von den Bundestagsparteien herausgegebenen Materialien die aus der demokratischen Diskussion im nichtstaatlichen Bereich entstandenen, einen wichtigen Teil der kollektiven Weisheit verkörpernden Diskussionspapiere.


Auf einige sei zu diesem Zweck hingewiesen. Zu nennen wären vor allem: